1549 - Der steinerne Engel
Der Winter war bisher nicht besonders kalt gewesen, aber oben, in fast zweitausend Metern Höhe, hatte der Schnee ein schmutziges Leichentuch hinterlassen, von dem der Wind jede Menge Kristalle in die Höhe schleuderte und sie zu einer Fahne vereinte.
Sie bewegte sich unter einem blassblauen Himmel, der nicht einen einzigen Wolkenschleier zeigte. Auch wenn er wie ein Postkartenmotiv aussah, man durfte sich nicht täuschen lassen. Dieses Bild konnte sich sehr schnell ändern. Dann waren plötzlich die Wolkenwände da, die darauf hindeuteten, dass sich das Wetter änderte.
Schnee, Kälte, Wind, auch Wärme, da konnte einiges zusammenkommen, wenn eine Wetterlage nicht stabil war. Die wenigen Menschen in den Bergen konnten sich auf nichts mehr verlassen. Die globale Veränderung der Umwelt verschonte auch sie nicht.
Der Templerführer Godwin de Salier stellte den Kragen seiner mit Lammfell gefütterten Jacke hoch und drehte dem Mann neben ihm sein Gesicht zu. »Bist du sicher, dass es hier ist?« Er breitete die Arme aus.
»Hier in der Pyrenäen gibt es nur die große Einsamkeit, in der man sich verlieren kann.«
»Keine Sorge«, erklärte Luc Domain, »ich führe dich nicht in die Irre.« Er nahm seine Wollmütze ab und strich über sein Haar, das von fast blauschwarzer Farbe war. Er war ein kräftiger Mann mit einer wettergegerbten Haut, in der das Leben bereits einige Falten hinterlassen hatte.
»Und wo genau?« De Salier konnte seine Neugierde kaum zügeln.
»Lass uns noch ein Stück fahren.«
Der Templer warf einen Blick auf den Geländewagen, einen Jeep älterer Bauart, aber fahrtüchtig und verlässlich.
Er sagte nichts und hob die Schultern an. Er musste sich fügen, und das hatte er bereits gewusst, als er in seinem Kloster in Alet-les-Bains den Anruf des Bekannten erhalten hatte.
Ihm sollte etwas gezeigt werden, etwas sehr Gefährliches und auch Altes.
Luc Domain hatte von einem Todesengel gesprochen.
De Salier wusste, dass dies nicht so einfach dahin gesagt worden war.
Nicht bei Luc, dem Mönch, der seinen Platz nicht im Kloster sah, sondern in die Welt hinausging, um in den Gemeinden zu predigen.
Dabei nahm er auf Konfessionen keine Rücksicht. Bestimmte Themen wurden von allen verstanden, egal, welcher Glaubensrichtung sie an gehörten.
Beide Männer kannten sich recht gut, und sie wussten, dass sie sich aufeinander verlassen konnten.
»Einen Engel habe ich mir immer anders vorgestellt«, murmelte der Templer.
Er war trotzdem gehört worden »Ich auch, Godwin«, sagte Domain, »aber die Menschen haben ihn so ge nannt. Was willst du machen? Und jetzt ist die Zeit gekommen, wo er wieder unterwegs ist.«
»Um sich Kinder zu holen?«
»Ja, die Jungen. Die Erstgeborenen. Das ist schon seit Generationen so gewesen. Die Menschen haben versucht, sich dagegen zu wehren, aber schließlich haben sie sich damit abgefunden. Bisher hat es niemanden gegeben, der sich ihm direkt in den Weg gestellt hätte.«
»Dann sind wir die Ausnahmen.«
»So ist es.«
Luc Domain zog die Fahrertür des Jeeps auf und stieg ein, womit de Salier noch wartete. Er blieb hinter dem Wagen stehen und schaute sich um. Sein Blick schweifte über die einsame Gegend.
Er wusste nicht genau, in welchem Land er sich befand. Das konnte noch Frankreich sein, aber auch schon Spanien. Er ging davon aus, dass sie sich im Grenzgebiet zwischen den beiden Ländern bewegten, wo es so gut wie keine Kontrollen mehr gab.
Auch die alten Schmugglerpfade wurden nicht mehr benutzt. Europa war eben zusammengewachsen.
»Willst du nicht einsteigen?«
»Sicher.«
Wenig später ließ Luc Domain den Motor wieder an. Die Reifen des Jeeps griffen zu, und der Wagen mit den beiden Männern setzte sich in Bewegung.
Höher brauchten sie nicht mehr. Sie befanden sich auf einem kalten Bergrücken, auf dem es nur noch wenig Vegetation gab. Überall war der blanke Fels zu sehen. Die Bäume hatten sie weit unter sich gelassen.
Im Sommer waren in dieser Gegend Bergwanderer unterwegs. Davon hielt sie jetzt die Kälte ab, die immer mit einem scharfen Wind verbunden war.
Den Schnee gab es auch, mal mehr, mal weniger, das hing von der Stärke der Verwehungen ab.
Es gab auch einige einsam liegende Ortschaften. Innerhalb der wilden Bergwelt wirkten sie verloren oder vergessen. Wie die Dörfer hießen, wusste nicht mal Godwins Führer. Und wenn, dann hatte er die Namen vergessen. Aber erkannte die Umgebung, und er wusste, wie er fahren musste.
»Glaubst du,
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