Was deine Augen sagen: Roman (German Edition)
war das jüngste ihrer sechs Kinder. »Die Chaira sagt – die Hellseherin, erinnerst du dich? –, also sie sagt, dass es ganz sicher ein Junge wird.«
»Und wie soll er heißen?«, erkundigte sich Francesca.
»Mal sehen, was der Heiligenkalender sagt«, meinte Cívico.
»Ja, besser als der Wandkalender. Da kommst du an einem 9. Juli zur Welt, dein alter Herr schaut auf den Kalender, sieht ›día cívico‹, Nationalfeiertag, und schon hast du den Salat und heißt Cívico.«
»Pah! Ist doch kein schlechter Name«, brummte ihr Mann.
Francesca mochte die beiden sehr. Sie gehörten zu der Sorte einfacher Menschen, die sie manchmal mit einer Weisheit überraschten, die sie nicht einmal von ihrem Onkel Fredo kannte – eine Mischung aus Einfühlungsvermögen, Schicksalsergebenheit und Lebenslust. Menschen, denen es am Nötigsten fehlte und die dennoch weder Hunger noch Kälte fürchteten und sich nicht unterkriegen ließen.
»Und drüben, im großen Haus?«, erkundigte sich Jacinta.
»Ich bin eben erst angekommen und habe noch keinen gesehen, nicht mal Sofía. Alles beim Alten, denke ich«, sagte Francesca unmutig. »Señora Celia wird unausstehlich sein, genau wie Enriqueta, und Señor Esteban trägt es mit Fassung.«
»Und das Fräulein Sofía? Hat sie sich von dieser … von dieser Geschichte erholt?«
Francesca machte eine vielsagende Geste. Cívico und Jacinta sahen zu Boden und seufzten. Sie mochten die jüngste Tochter des Gutsbesitzers, obwohl sie sie nur wenige Male gesehen hatten. Eigentlich kannten sie Sofía nur durch Francesca, die ihr nahestand wie eine Schwester.
»Heute kommt der junge Herr Aldo«, bemerkte Cívico, um die düsteren Wolken zu vertreiben. »Der Patrón hat es mir eben erzählt.«
»Na, so jung kann der junge Herr nicht mehr sein«, stellte Jacinta fest. »Wie lange hat er sich nicht mehr hier blicken lassen?«
»Na ja …«, sagte Cívico und kratzte sich am Kopf. »Zehn Jahre ungefähr. Er war achtzehn, als sie ihn zum Studium nach Europa geschickt haben. Jetzt muss er um die achtundzwanzig sein.«
»Und kommt er gerade von drüben aus Europa?«
»Nein«, sagte der Vorarbeiter. »Er ist schon seit drei Jahren oder so wieder hier, aber er ist in Buenos Aires geblieben. Die Leute da sind wohl mehr nach seinem Geschmack.«
»Du erinnerst dich gar nicht an ihn, oder?«, fragte Jacinta Francesca.
»Als meine Mama ihre Stelle bei den Martínez Olazábals antrat, war ich sechs Jahre alt. Ich kann mich kaum noch an Aldo erinnern. Er war nur übers Wochenende zu Hause, weil er am La Salle war, einem Internat in Richtung Saldán. Aber ich habe nie ein Wort mit ihm gewechselt. Er vergrub sich die ganze Zeit in der Bibliothek, um zu lesen. Mit Sofía war er ziemlich eng, sie hing sehr an ihrem Bruder. Ich weiß noch, wie sie gelitten hat, als man ihn ins Ausland schickte.«
»Tja, so ist das in dieser Familie«, sagte Cívico bedauernd. »So viel Traurigkeit. Und das alles für nichts.«
Bevor sich erneut dunkle Wolken über sie senken konnten, meinte Jacinta: »He, Cívico, worauf wartest du? Bring unsere Panchita dorthin, wo sie eigentlich hinwollte. Sie ist ja schließlich nicht wegen uns alten Langweilern hergekommen. Los, bring sie zu den Ställen. Der Ärmste wird schon ganz aus dem Häuschen sein; hat sie bestimmt schon gewittert.«
Francesca dankte Jacinta mit einem Lächeln. Sie schämte sich nicht dafür, dass ihr die Ungeduld, endlich ihren Hengst Rex zu sehen, so sehr anzumerken war, denn niemand wusste besser als Jacinta und Cívico, wie sehr sie an dem Pferd hing. Auf dem Weg zur Koppel erzählte ihr der Vorarbeiter, dass Rex – ein reinrassiger Araber – vor Kraft strotze und nach wie vor nervös und eigensinnig sei. Keiner der Landarbeiter traute sich in seine Nähe, weil er die Unart hatte, um sich zu beißen. Also kümmerte Cívico sich darum, ihn zu bewegen, zu bürsten und zu striegeln.
»Dich kennt er«, bemerkte Francesca.
»Er respektiert mich, weil er weiß, dass ich dein Freund bin, sonst würde er nach mir austreten und mir diese riesigen Zähne ins Fleisch schlagen, die Gott ihm gegeben hat. Ich hätte nicht übel Lust, ihn kastrieren zu lassen.«
»Komm bloß nicht auf die Idee, Cívico«, warnte ihn das Mädchen.
»Señor Esteban hat’s mir grad heute noch vorgeschlagen.«
»Meinem Pferd krümmt niemand auch nur ein Haar.«
»Aber es ist nicht dein Pferd, Panchita, es gehört dem Fräulein Enriqueta. Ich hab dir doch gesagt, dass
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