Was der Winter verschwieg (German Edition)
geborgten Schneestiefeln und fand an der Garderobe bei der Tür eine Wollmütze im Sherpa-Stil, die sie sich aufsetzte. Dann ging sie nach draußen. Sobald sie ihren Garten betrat, versank sie bis zum Oberschenkel im weichen Schnee.
Okay, dachte sie, das ist vielleicht doch keine so gute Idee. Sie kämpfte sich frei, was gar nicht so einfach war, weil sie in dem frischen Schnee keinen Halt fand. Als sie endlich den Rand des Sees erreicht hatte, war sie überall mit Schnee bestäubt und atmete schwer. Ihr Knie tat zwar nicht weh, aber ein leises Ziehen erinnerte sie daran, es langsam angehen zu lassen. Vorsichtig machte sie sich auf den Weg zum Nachbarn.
Er trug eine schwarz-rot karierte Jägerjacke, dicke Handschuhe und enorm große Stiefel und war so konzentriert auf seine Arbeit, dass er sie gar nicht kommen hörte.
„Hallo“, rief Sophie und wedelte mit den Armen.
Der Nachbar schaute zu ihr, steckte den Schneeschieber mit dem orangefarbenen Blatt in eine Schneewehe und kam ihr entgegen. „Selber hallo.“ Die Stimme war sehr melodisch – eindeutig weiblich.
Verdattert musste Sophie sich erst einmal fangen. „Mein Name ist Sophie Bellamy“, stellte sie sich schließlich vor. „Ich wohne im Moment im Haus der Wilsons, also dachte ich, ich komme mal vorbei und sage Guten Tag.“
Die Frau – es war ganz eindeutig eine Frau – lächelte. Kalte Luft und harte Arbeit hatten ihre Wangen gerötet, was ihrem Lächeln ein ganz besonderes Strahlen verlieh. „Tina Calloway“, sagte sie. „Schön, Sie kennenzulernen.“
Sophie konnte nicht sagen, ob Tina es wirklich schön fand oder nicht. Sie zeigte auf das Eis. „Räumen Sie den Schnee beiseite, um Eislaufen zu können?“
Tina nickte. „Ja. Das ist vollkommen sicher. Ich bin hier aufgewachsen und bin jeden Winter auf dem Eis Schlittschuh gelaufen.“
„Es sieht so wunderschön aus, wie aus einem Bilderbuch.“
„Laufen Sie Schlittschuh?“
„Ein wenig. Ich schaffe es, nicht hinzufallen. Zumindest war es mal so.“ Auch wenn sie im Land von Hans Brinker gelebt hatte, hatte Sophie sich nicht viele Freizeitvergnügungen gegönnt, wie Tariq immer wieder betonte. Sie hatte gearbeitet – und dann hatte sie noch ein wenig mehr gearbeitet. Jeden Abend nahm sie sich Arbeit mit nach Hause, und am nächsten Morgen ging sie wieder in ihr Büro. Das war einer der Gründe, warum sie beim Internationalen Strafgerichtshof so schnell vorangekommen war. Sie hatte kein Leben gehabt. Sie war eine Maschine.
„Dann sind Sie also eine Freundin der Wilsons?“, fragte Tina.
„Ja. Bertie Wilson und ich waren während des Jurastudiums nahezu unzertrennlich. Wir stehen uns immer noch sehr nahe.“
„Ah, Sie sind also Anwältin.“
„Stimmt. Ich bin … nun ja, im Moment nehme ich mir eine Auszeit. Ich habe in Übersee gearbeitet.“ Sie verstummte, und Tina machte zum Glück keine Anstalten, näher nachzufragen.
„Ich bin die Trainerin der Frauen-Eishockeymannschaft an der SUNY in New Paltz“, erklärte Tina. „Das Haus hier gehört meiner Familie.“
„Meine Tochter wird demnächst an der SUNY studieren“, antwortete Sophie begeistert.
„Sie sehen aber nicht so aus, als könnten Sie schon eine Tochter auf dem College haben.“ Tina öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke und wedelte sich Luft zu. „Tut mir leid, ich bin beim Schneeschippen richtig ins Schwitzen geraten.“ Unter der Jägerjacke war sie wie eine Snowboarderin angezogen, mit Cargohosen, die den flammenden Schriftzug
Ride or Die
auf der Tasche trugen.
Das Dröhnen eines Motors erfüllte die Luft und wurde immer lauter. Ein Schneemobil kam in Sicht, und ohne Vorwarnung schlug Sophies Herz schneller.
„Hey, Noah!“ Tina schob die Kapuze zurück und blühte auf wie eine Blume in der Frühlingssonne. Er ist ein wenig zu alt für dich, dachte Sophie, obwohl sie gar nicht wusste, wie alt Noah Shepherd war.
Er schaltete den Motor ab. „Ich habe ein wenig Holz mitgebracht“, erklärte er und zeigte auf den Schlitten, der hinten am Schneemobil befestigt war. „Ich wollte nur sichergehen, dass es dir gut geht.“
„Machst du Witze? Bei diesem Wetter blühe ich erst richtig auf.“ Tina machte eine weit ausholende Handbewegung, die die endlose weiße Fläche einschloss.
„Ihr zwei habt euch also schon kennengelernt“, merkte Noah an.
Sophie nickte. „Ich wollte die Nachbarn wissen lassen, dass ich kein illegaler Hausbesetzer bin.“
„Wie geht es Ihrem Knie?“
„Gut, danke.“ Mit
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