Was die Seele krank macht und was sie heilt
aus der Gruppe, stellvertretend die Rolle eines Familienmitgliedes zu übernehmen. Auf diese Weise werden Vater, Mutter, Geschwister und ein Stellvertreter für den Aufstellenden ausgewählt. Der Therapeut achtet darauf, daß mißliebige oder totgeschwiegene Familienmitglieder, wie uneheliche Kinder, Totgeborene, Psychiatrieinsassen oder frühere Verlobte, nicht übergangen werden. Bei alldem braucht der Therapeut nur wenige Informationen. Charakterisierungen, wie »mein Vater war immer sehr dominant«, sind dabei unwichtig. Allein schicksalsschwere Ereignisse im System sind von Belang, zum Beispiel der Tod einer Mutter im Kindbett oder ein Selbstmord.
Wenn alle Familienmitglieder benannt und ausgesucht sind, nimmt der Klient in gesammelter Haltung die Stellvertreter am Arm und stellt sie nach seinem inneren Bild im Raum auf. Dadurch treten die Stellvertreter untereinander in Beziehung. Anschließend kann sich der Klient wieder auf seinen Platz setzen. Schon allein das äußere Bild der Familienaufstellungen kann in manchen Fällen Aufschlüsse geben. Wenn zum Beispiel Vater und Mutter so aufgestellt wurden, daß sie sich gegenüberstehen, stammt der Betreffende häufig aus einer Familie, bei der die Eltern sich scheiden ließen. Manchmal allerdings ist eine Ehe nur innerlich geschieden, ohne daß es zu einer äußerlich sichtbaren Trennung gekommen wäre.
Wenn alle zueinander in Beziehung stehen, fragt der Therapeut die Stellvertreter, wie sie sich körperlich und emotional fühlen und was sie den anderen Familienmitgliedern gegenüber empfinden. Obwohl es sich bei den Stellvertretern um völlig fremde Menschen handelt, ist es immer wieder verblüffend, wie detailliert diese die Geschichte der Familie darstellen können. Die Stellvertreter fühlen wie die wirklichen Familienmitglieder. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Aufstellung, bei der ich als Stellvertreter das Gefühl hatte, mir wären beide Beine abgeschnitten. Auf Befragen stellte sich heraus, daß der Mann, den ich vertrat, an beiden Beinen amputiert war. In einer solchen Stellvertreterposition kann man die unterschiedlichsten körperlichen Beschwerden wahrnehmen, die der Betreffende hatte oder hat, zum Beispiel einen chronischen Magendruck oder ein Herzrasen. Man spürt auch sofort, wer zu wem Antipathie oder Sympathie empfindet.
Bei einem Seminar hatte eine Klientin ihren Vater aufgestellt, den sie nahezu zwei Jahrzehnte nicht gesehen hatte. Die Art, wie sich in der Aufstellung sein Charakter darstellte, stimmte kaum noch mit dem überein, was ihr die Mutter über ihn erzählt hatte. Schon bald nach dem Seminar faßte sich die Klientin ein Herz und besuchte ihren Vater. Wie sie mir berichtete, war sie ziemlich verblüfft, daß der Vater sich exakt so verhielt wie sein Stellvertreter in der Aufstellung. Es ging sogar so weit, daß der Vater nicht nur inhaltlich dasselbe sagte wie sein Stellvertreter in der Gruppe, sondern daß er sich zum Teil identischer Worte bediente!
Wenn bei einer Aufstellung in der Gruppe jemand vergessen worden ist, zeigt sich das oft daran, daß alle Stellvertreter wie hypnotisiert auf eine leere Stelle schauen. Hier fehlt jemand! Sobald der Betreffende, beispielsweise ein vergessener Selbstmörder, durch einen ausgewählten Stellvertreter auf diesen vakanten Platz gestellt wird, atmen die anderen sichtbar auf.
Nachdem alle Familienmitglieder bzw. Stellvertreter gesagt haben, wie sie sich fühlen, verändert der Therapeut die Positionen der Familienmitglieder, bis eine Ordnung gefunden wird, bei der jeder sich wohl fühlt. Die Suche nach der Lösung dient nicht nur dem Klienten, sondern der ganzen Familie. Der Therapeut orientiert sich dabei an der verbalen wie nonverbalen Resonanz der Aufgestellten: Wie reagiert der Körper? Was teilen Gestik und Mimik mit? Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell Hellinger sich an Körpersignalen orientieren kann. Wenn für alle die Lösung gefunden ist, erkennt man das an einem Leuchten in den Gesichtern und der entspannten Körperhaltung.
So bleibt zum Beispiel in einer Schlußaufstellung der von allen verachtete homosexuelle Onkel, der Selbstmord begangen hat, nicht länger mit dem Rücken zur Familie stehen, sondern erhält einen würdigen Platz, wo ihn alle deutlich sehen können. Auf diese Weise braucht ein spätergeborener Junge das Schicksal dieses Onkels nicht nachzuahmen. Dieses unbewußte Aufnehmen eines Schicksals von Frühergeborenen nennt Hellinger »Verstrickung«.
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