Was die Toten wissen
gesickert. Warum hatte er ihr ein Handtuch unter den Kopf gelegt? Und konnte man sich bei einem Sturz vom Bett derart den Kopf aufhauen? Aber das waren Fragen, die sich Sunny die nächsten Jahre nicht zu stellen traute.
»Nein«, entgegnete Tony. »Sie ist tot. Wir sollten meinen Dad anrufen. Der wird wissen, was zu tun ist.«
Stan Dunham war viel netter als der Tyrann, für den ihn sein Sohn ausgegeben hatte. Weder brüllte noch schrie er; auch sagte er nicht wie Sunnys Mutter so oft: Was hast du dir bloß dabei gedacht, Sunny? Warum hast du nicht überlegt ? Sunny konnte sich vorstellen, dass er streng sein konnte, aber nicht Angst einflößend, niemals Angst einflößend. Wenn man wirklich in Not war, konnte man jemanden wie Stan Dunham gut gebrauchen.
»Ich sehe es so«, sagte er, auf dem Doppelbett im Motelzimmer sitzend, die Hände auf den Knien. »Sie ist tot, das können wir nicht mehr ändern. Wenn wir die Behörden einschalten, wird mein Sohn verhaftet und verurteilt werden. Niemand wird ihm glauben, dass es ein Unfall war. Und Sunny wird den Rest ihres Lebens mit Eltern zubringen müssen, die sie für den Tod ihrer Schwester verantwortlich machen.«
»Aber ich habe nichts …«, protestierte sie. »Ich war gar nicht …«
Er hob die Hand, und Sunny schwieg. »Es wird für deine Eltern schwer, etwas anderes zu denken. Siehst du das nicht? Eltern sind auch nur Menschen. Sie werden dich nicht hassen wollen, aber sie tun es. Ich weiß es. Ich bin selbst Vater.«
Sie senkte ratlos den Kopf.
»Aber ich sag dir mal, wie ich das sehe, Sunny? Du heißt doch Sunny? Du und Tony habt euch das alles ausgedacht. Ich bin mir nicht sicher, ob Tony wusste, dass man mit fünfzehn ohne die Einwilligung der Eltern in diesem Staat nicht heiraten kann« – er warf einen flüchtigen Blick auf seinen Sohn -, »aber
das wolltet ihr, und wir werden das nun durchziehen. Es ist ehrenwert, wenn man tut, was man versprochen hat. Du kommst mit zu uns und lebst dort unter einem anderen Namen. Bei uns zu Hause kannst du Tonys Frau sein, so wie ihr das vorhattet. Ihr könnt in einem Zimmer schlafen. Ich bin damit einverstanden. Du musst noch eine Zeitlang zur Schule gehen, dir dafür einen neuen Namen zulegen. Und wenn du alt genug bist, könnt ihr eine richtige Hochzeit feiern. Ich lass mir was einfallen. Ich werde dafür sorgen, dass es funktioniert. Ich geb euch mein Wort.«
Dann hob er Heather auf, wie ein Vater sein schlafendes Kind, bettete ihren zertrümmerten Kopf in der Hand, legte sie sich über die Schulter, trug sie hinaus zu seinem Wagen und bedeutete Sunny, ihm zu folgen. Zu ihrer eigenen Verwunderung machte sie genau das – folgte ihm zum Wagen, in ein anderes Leben, eine andere Welt, wo sie nicht das Mädchen sein musste, das den Tod ihrer Schwester herbeigeführt hatte. Tony sollte zurückbleiben und das Zimmer putzen und dann wie geplant dort übernachten, damit die Leute vom Motel keinen Verdacht schöpften. Tony hat nie vorgehabt, mich zu heiraten, gestand sich Sunny ein, während sie bei Stan Dunham im Auto saß, die Leiche ihrer Schwester im Kofferraum. Er wollte sie nur in dieses hässliche Motel an der Fernstraße locken, mit ihr schlafen und sie dann wieder zu Hause absetzen, darauf vertrauend, dass ihre Scham und Verlegenheit sie davon abhalten würden, irgendwem davon zu erzählen.
Es hätte wahrscheinlich auch funktioniert. Sie wäre in die Algonquin Lane zurückgekehrt, hätte sich irgendeine Story ausgedacht, warum sie für mehrere Stunden verschwunden war. Aber jetzt konnte sie nicht mehr nach Hause, nicht ohne Heather. Mr. Dunham hatte recht. Sie würden ihr das niemals verzeihen. Sie würde sich selbst niemals verzeihen.
Sie nannten sie Ruth. Den Leuten erzählten sie, sie wäre eine entfernte Verwandte, von der sie gar nichts gewusst hätten, bis ihre Familie bei diesem Feuer umkam. Nach außen hin war sie ausschließlich die entfernte Verwandte, die vielleicht, aber vielleicht auch nicht, in ihren Cousin verliebt war. Aber seit dem Tag, an dem sie die Türschwelle überschritten hatte, war sie eigentlich Tonys Frau. Sie teilte das Bett mit Tony und fand heraus, dass es ihr keinen Spaß machte. Die Freundlichkeit, die Komplimente aus der Zeit im Bus waren wie weggeblasen und an ihre Stelle war dringlicher, fast brutaler Sex getreten, der sich vor allem durch die Kürze auszeichnete. Wenn sie sich nach zu Hause sehnte, wenn sie es wagte, anzudeuten, dass sie vielleicht wieder zurückkehren
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