Was die Toten wissen
einen Unfall gehabt und man die Knochen in ihrem Gesicht gerichtet hätte. Es sah zwar ähnlich aus wie zuvor, war aber dennoch anders.
Der Aufzug bewegte sich unerträglich langsam, wie sie bei ihrer eigenen Fahrt nach unten bereits bemerkt hatte, und das Warten in der Halle kam ihr endlos vor. Aber schließlich stiegen Infante und Nancy doch noch aus dem Aufzug, in ihrer Mitte eine schmächtige blonde Frau, die sie leicht an den Ellbogen fassten. Ihr Kopf war gesenkt, sodass man ihr Gesicht kaum sehen konnte. Miriam musterte die Frau – Ruth hieß sie? -, so gut es ging, bemerkte die schmalen Schultern und Hüften, die seltsam jugendlichen Hosen, etwas deplatziert an einer Frau mittleren Alters. Wenn das meine Tochter wäre, hätte sie sicherlich einen besseren Geschmack .
Die Frau sah auf, und Miriam starrte sie an. Das hatte sie eigentlich gar nicht gewollt, aber sie konnte nicht anders. Langsam erhob sie sich und stellte sich den dreien in den Weg, was Infante und Nancy eindeutig gegen den Strich ging. Das war nicht vorgesehen gewesen. Sie hatte es versprochen. Sie dachten wahrscheinlich, sie wolle die Frau schlagen, Verwünschungen gegen den Scharlatan ausstoßen, der sich auf Miriams Kosten amüsierte.
»Mi… Ma’am«, korrigierte sich Infante schnell, um ihren Namen zu schützen. »Wir führen hier eine Gefangene ab. Sie trägt nur aufgrund einer Verletzung keine Handschellen. Bitte treten Sie zurück.«
Miriam ignorierte ihn und nahm die linke Hand der Frau, drückte sie, als ob sie sagen wollte: Kein Sorge, das wird nicht wehtun , und schob dann den Ärmel des Strickpullovers hoch, vorsichtig um den verbundenen Unterarm herum. Auf dem Oberarm fand sie, was sie suchte, die breitflächige, wenn auch bereits verblasste Impfnarbe, die sich durch den Schlag mit der Fliegenklatsche infiziert hatte. Die Fliege wurde dabei zwar nicht getroffen, aber die Wunde entzündete sich und brauchte Wochen, um zu heilen. Dabei war eine Narbe zurückgeblieben, so blass, dass sie keinem anderen auffallen würde. Es war sogar möglich, dass da gar nichts mehr zu sehen
war, aber Miriam glaubte, es zu sehen, und deshalb sah sie es.
»Oh, Sunny«, sagte Miriam, »was um alles in der Welt geht hier vor?«
Kapitel 41
The wheels on the bus go round and round, round and round, round and round .
Sie wollten von ihr wissen, was sie dachte, was ihr durch den Kopf ging. Es war das Kinderlied, das Heather im Gang gegenüber von ihr an jenem Nachmittag im 15er Bus vor sich hin summte. Heather war noch ein kleines Kind. Sunny nicht mehr. Sunny stand kurz davor, eine Frau zu werden. Dieser Bus, die Linie 15, fuhr die anderen zum Einkaufen in die Mall, aber sie brachte er zu ihrem Zukünftigen.
Busse hatten etwas Magisches. Es hatte etwas mit einem anderen Bus zu tun, dass sie diesen Entschluss nun fasste, dass sie ihr Leben völlig veränderte. Sie lief von zu Hause weg, genau wie ihre Mutter, ihre richtige Mutter, von der sie die blonden Haare und blauen Augen hatte. Ihre richtige Mutter hätte sie verstanden, sie wäre jemand gewesen, mit dem sie über all die Dinge, die tief in ihrem Inneren verborgen waren, hätte reden können, Geheimnisse, die so brisant waren, dass sie sie niemals aufgeschrieben hätte, noch nicht einmal in ihr Tagebuch. Sunny Bethany war fünfzehn und in Tony Dunham verliebt, und jedes Lied, das sie hörte, jedes Geräusch, das sie vernahm, schien dieses Signal zu senden, sogar das Dröhnen der Busreifen.
The wheels on the bus go round and round, round and round, round and round .
Im Schulbus hatte es angefangen, nachdem die Route auf Drängen der anderen Eltern hin geändert worden war und Sunny am Nachmittag als Einzige noch im Bus übrig blieb.
»Macht es dir was aus, wenn ich das Radio einschalte?«, fragte der Fahrer sie eines Tages. Er war eine Vertretung, jung und gut aussehend, ganz anders als Mr. Madison, der normalerweise die Strecke fuhr. »Aber das muss unser Geheimnis bleiben. Wir dürfen nämlich kein Radio hören. Das Busunternehmen gehört meinem Vater, und der ist echt streng.«
»Klar«, sagte sie, und es war ihr peinlich, wie piepsig ihre Stimme klang. »Ich sag nichts.«
Dann – noch nicht gleich beim nächsten oder übernächsten Mal oder das Mal darauf, aber dann im November, als es kälter geworden war: »Warum kommst du nicht nach vorn und unterhältst dich ein bisschen mit mir? Es ist ganz schön öde, so alleine rumzusitzen.«
»Klar«, sagte sie und kam sich blöde vor,
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