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Was die Toten wissen

Was die Toten wissen

Titel: Was die Toten wissen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lippman
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konnte.
    Unterdessen wartete Gloria Bustamante in den Staaten darauf, dass sich CamKetchBarbSylRuthSunny entschied, wer sie sein wollte. Es war eine schwierige Entscheidung, noch zusätzlich verkompliziert durch Stan Dunhams Tod im Sommer, der Sunny ein kleines Vermögen vermachte, von dem Gloria meinte, sie solle das Erbe auf alle Fälle annehmen. Konnte sie das? Sollte sie das? Und wenn sie für die restlichen Ersparnisse von Stan Dunham ihren richtigen Namen wieder annahm, wie lange würde es dauern, bis jemand auf sie aufmerksam wurde? Wer sollte es besser wissen als Sunny, dass jedes Tastentippen am Computer eine Spur hinterließ?
    Hier aber konnte sie in den nächsten zwei Wochen sein, wer sie wollte.
    » Me llamo Sunny.«
    Javier lachte und wies zum Himmel: »¿Como el sol? Qué bonita.«
    Sie zuckte verlegen die Schultern. Smalltalk war auf Englisch schon schwer genug. Sie schob die Tür zum Laden auf und versetzte das Windspiel in Bewegung. Im »Mann mit der Blauen Gitarre« hatte auch ein Windspiel gehangen, fiel ihr ein, das hatte allerdings tiefer und voller geklungen.
    Ihre Mutter – ihre Mutter! – bediente gerade eine Kundin, eine kleine, untersetzte Frau mit einer Reibeisenstimme, die ein Paar Ohrringe auf der Ladentheke hin und her schob, als
ob sie ihr etwas angetan hätten. »Das ist meine Tochter Sunny«, sagte Miriam, aber sie war zwischen der Theke und dem Leibesumfang der Kundin eingeklemmt und konnte deshalb nicht auf Sunny zugehen und sie umarmen, was sie offensichtlich gern getan hätte. Sie will mich doch in den Arm nehmen, oder? Die Frau warf Sunny einen kurzen Blick zu und fuhr fort, den Schmuck zu begutachten. Die Stücke schienen unter ihrer Berührung anzulaufen, dunkler zu werden, sich unter ihren Stummelfingern zu verbiegen. Sunny fragte sich, ob sie Fremde auch noch anders betrachten konnte oder ob sie sie weiterhin nur taxieren würde. Diese Frau hier war ganz eindeutig widerlich.
    »Sie kommt anscheinend nach ihrem Vater«, bemerkte die Frau, und Sunny fiel wieder ein, mit wie viel Vergnügen sie Mrs. Hennessey im Pausenraum der Fairfax Gazette ihre Pepsi über den Kopf gekippt hatte. Es gab einiges, was sie bereute, um es mal milde auszudrücken, aber das gehörte bestimmt nicht dazu. Im Gegenteil, es war einer der erhebendsten Augenblicke ihres Lebens gewesen. Sie sollte ihrer Mutter auf der Reise nach Cuernavaca, wo sie gemeinsam hinwollten, davon erzählen. Es war eine der wenigen lustigen Geschichten, die sie erzählen konnte, eine, die sie nicht traurig oder ängstlich machte.
    Sie hatte vor den Gesprächen mit ihrer Mutter etwas Schiss gehabt, aber letztlich war es wesentlich einfacher, sich mit ihr zu unterhalten, als sie gedacht hatte. Am nächsten Tag im Zug nach Mexico City fingen sie bei Penelope Jackson an. Sie war noch immer unauffindbar, hatte allerdings nach den ersten achtundvierzig Stunden in Seattle Gott sei Dank aufgehört, Sunnys Kreditkarten zu benutzen. Als sie in den Bus nach Cuernavaca umstiegen, hatte Miriam ihren ganzen Mut zusammengenommen und Sunny gefragt, ob Penelope Tony umgebracht habe, und Sunny bestätigte es. Penelope habe aber nichts von dem Geld gehabt. Die Rente aus Kapitalausschüttungen
sei mit Tonys Ableben erloschen. »Aber sie war mit Sicherheit imstande, jemanden umzubringen. Sie hatte die bösesten Augen … Mom, ich hatte Angst vor ihr. Als ich sie gesehen habe, wusste ich gleich, dass ich alles tun würde, was sie von mir verlangt.«
    Sie sprachen lang und breit über Detective Willoughby, der immer wieder in seinen E-Mails andeutete, dass er zum Golfspielen nach Mexiko kommen wolle, und wissen wollte, ob es in der Umgebung von San Miguel de Allende gute Golfplätze gab. Miriam sagte, sie wolle ihn nicht ermuntern, aber Sunny fand, das könne sie ruhig, wenigstens ein bisschen. Was sollte schon dabei sein?
    Und irgendwann dann – nicht am nächsten Tag und auch nicht am darauffolgenden, sondern ein paar Tage später, als sie bei Sonnenuntergang mit Drinks in der Hand im Las Mañanitas saßen, während die weißen Pfauen über den Rasen stolzierten, fragte Sunny Miriam, ob sie glaube, dass es stimmte, was ihr Kay vor all den Monaten gesagt hatte – wie in einer Notlage die Stärken und Schwächen eines Menschen oder einer Familie hervortraten. Risse hatte Kay es genannt.
    »Was du eigentlich wissen willst«, sagte Miriam, »ist, ob es deine Schuld ist, dass dein Vater und ich uns getrennt haben. Sunny, es ist niemals die Schuld

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