Was die Toten wissen
Verkäuferin bei Swiss Colony, als Mitarbeiterin bei einer kleinen Zeitung, als IT-Fachfrau bei einem großen Versicherungsunternehmen. Wie ein Vogel, der sich in verlassene Nester setzt, war sie in das Leben verstorbener Mädchen geschlüpft, hatte darauf vertraut, dass sie niemand entdeckte. Sie war absichtlich zu einer der anonymen Frauen geworden, die durch die Straßen, Bürogebäude und Einkaufszentren strömten – recht attraktiv und zugleich abweisend. Hätte Infante als Meister der Frauenkatalogisierer sie in irgendeiner ihrer Masken bemerkt? Wahrscheinlich nicht. Aber wenn er sie jetzt ganz genau betrachtete, erkannte er, dass ihr Gesicht der Computerprojektion von Sunny Bethany im Alter erstaunlich ähnlich sah, obwohl die Zeichnung – mit ausgeprägten Krähenfüßen und tiefen Furchen um den Mund herum – ein wenig danebenlag. Sie hätte für fünf, ja sogar für zehn Jahre jünger durchgehen können. Aber sie hatte sich mit nur drei Jahren weniger begnügt.
Und stell sich mal einer vor , dachte Infante, während er das Fenster am Bildschirm mit den Abbildungen der beiden Mädchen schloss, Sunny Bethany hat keine Lachfalten .
Teil X
SWADHAYAYA
Der fünfte und letzte Schritt des Fünffachen Pfades, Swadhayaya, ist die Befreiung durch Selbstfindung: Wer bin ich? Warum bin ich hier?
Mehreren Lehrschriften zu Agnihotra entnommen
Kapitel 42
In dem Augenblick, als Kevin Infante bei Nancy Porters Weihnachtsparty erschien, wusste er unweigerlich, dass ihn eine Kuppelei erwartete. Er hatte die Unglückliche auch sofort ausgemacht – eine Brünette im roten Kleid, die an sich halten musste, um nicht auf die Eingangstür zu starren. Sie war nicht gerade hässlich. Sie war sogar außergewöhnlich hübsch, wenn auch auf eine Art, die vor allem Frauen für attraktiv hielten – schlank, helle Augen, üppiges Haar. Das hatte sie verraten. Sie war Nancys Wahl, und er musste zugeben, sie hatte einen ziemlich guten Geschmack. Aber er hasste diese Verkupplungsaktionen, die durchblicken ließen, dass er selbst nicht in der Lage war, eine Frau zu finden, oder dass er meist eine schlechte Wahl traf.
Und selbst wenn Letzteres unumstritten war, er war alt genug. Nancy sollte ihm mehr zutrauen.
Er sah sich um, ob er sich irgendwo in ein Gespräch einklinken könnte. Das würde es der Brünetten schwerer machen, sich ihm zu nähern. Es war zwecklos, sich bei solch einem Anlass mit der Gastgeberin unterhalten zu wollen. Nancy schwirrte zwischen Küche und Esszimmer hin und her, füllte Teller und Platten nach und türmte noch mehr Essen auf das Buffet. Lenhardt war anscheinend noch nicht da, und Nancys Mann war noch nie besonders scharf auf Infante gewesen, aber Andy Porter hätte wahrscheinlich prinzipiell jeden Mann abgelehnt, der Stunden alleine mit seiner Frau verbrachte, selbst unter den harmlosesten Umständen. Er suchte, suchte und suchte in dem Bewusstsein, dass die Brünette immer näher rückte,
bis sein schweifender Blick an einem bekannten Gesicht hängen blieb, obwohl er einen Moment brauchte, es einzuordnen, rund und sympathisch. Kay – wie hieß sie noch mal? -, die Sozialarbeiterin.
»Hallo«, sagte sie und streckte ihm die Hand hin. »Kay Sullivan. Vom St. Agnes?«
»Na klar. Sie sind die …«
»Genau.«
Sie standen für einen Augenblick unsicher herum. Kevin wurde klar, dass er sich ernsthafter bemühen musste, wenn er auch nur eine zeitweilige Gnadenfrist bekommen wollte.
»Ich wusste nicht, dass Sie und Nancy befreundet sind.«
»Wir kennen uns schon länger. Sie hat mal im Frauenhaus einen Vortrag gehalten, über einen der ältesten unaufgeklärten Morde, den Powers-Fall.«
Er erinnerte sich daran. Er hatte noch nie einen seiner Fälle vergessen. Eine junge Frau hatte sich von ihrem Mann getrennt, ein wüster Streit um das Sorgerecht folgte. Sie war eines Nachmittags nach der Arbeit verschwunden, und weder sie selbst noch ihr Wagen wurden je wieder gesehen. »Oh, dieser Fall. Wie lange liegt der zurück?«
»Fast zehn Jahre. Ihre Tochter ist inzwischen ein Teenager. Können Sie sich das vorstellen? Bestimmt weiß sie, dass ihr Vater der Hauptverdächtige war, selbst wenn ihm niemals etwas nachgewiesen werden konnte. Er war früher bei der Polizei, das hatte ich schon ganz vergessen.«
»Ha.«
Noch eine verlegene Pause, während Infante sich fragte, warum Kay Sullivan dieses Detail eingestreut hatte. Wollte sie damit sagen, dass alle Cops in Baltimore Dreck am Stecken hatten? Stan
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