Was gewesen wäre
Kerstin, aus dem Kindergarten ab. Ich stand gern in dieser Zwergenwelt, im Umkleideraum, wo jedes Kind einen Haken und ein Fach hatte. Robin hatte blonde Haare, die ihm Kerstin vorne kurz und hinten lang geschnitten hatte. Er sah aus wie das Miniformat eines Rocksängers und kam schon beim ersten Mal auf meinen Arm. Ganz weich war der, und seine Haare rochen nach Apfelshampoo. Dann machten wir noch einen Schlenker, wie Kerstin das nannte, in die Kaufhalle. Sie kaufte für die Familie ein, und ich ließ Robin auf meinen Schultern reiten.
Sie hatten eine Zweiraumwohnung in einem der Neubaublocks in der Oststadt, die immer aufgeräumt war. Jedes Mal, wenn ich kam, und wir hatten das meistens vorher nicht abgesprochen. Es gab ein Bett mit einer türkisen Tagesdecke darüber, einen alten Kleiderschrank, und Robins Gitterbettchen stand natürlich auch im Schlafzimmer. Sein Teddy saß immer in derselben Ecke, mit gespreizten Beinen und etwas zurückgelegtem Kopf. Eine Anbauwand und ein Sofa im Wohnzimmer, davor ein Fernseher. »Wir haben einen Antrag auf eine Dreiraumwohnung laufen«, sagte Kerstin. »Aber ob das bis zur Geburt noch klappt? Glaube ich eigentlich eher nicht.« Hinter ihr über dem Sofa hing ein riesiges Poster vom Empire State Building in New York und neben der Zimmertür ein Setzkasten mit Steinen von der Ostsee. Kerstin lief durch die Wohnung und zündete Kerzen an. Eine große auf dem Couchtisch, zwei in der Anbauwand, eine kleine auf dem Setzkasten. Sie kochte Kaffee für uns und legte den Kuchen auf zwei Teller. Robin schleppte sein Spielzeug aus einer Ecke hinterm Kleiderschrank zu mir, und nach dem ersten Schluck Kaffee steckten wir uns eine Zigarette an. »Drei am Tag, die werden dem Wurm schon nicht schaden. Haben Robin auch nicht geschadet«, sagte Kerstin und lachte, und wenn sie lachte, wurden ihre Augen zu schmalen Schlitzen, was auch daran lag, dass sie sich jeden Morgen mit dem Kajal einen Lidstrich zog, weit über den Augenwinkel hinaus. Ich hatte sie noch nie ohne gesehen. Um sechs kam Olaf, ihr Mann. Der war Autoschlosser und ging immer in seinem Blaumann nach Hause. Er roch nach Öl und Benzin, küsste erst Kerstin und dann Robin und sagte: »Na, mein Großer.« Er gab mir seine raue Hand, lächelte unverbindlich und sagte »Tag«, ohne mich dabei anzusehen. Dann verschwand er im Bad, und ich ging. Mich machte dieses Leben neidisch. Alles war an seinem Platz.
Kerstin schloss die Tür von Zimmer 8 und drehte sich zu mir um. »Jetzt bist du aber mutig in Zimmer 9, meine Kleine. Sonst komm ich nachher nicht mit zu deiner Jana. Der Neubart sollte sich schämen, nicht du«, und dann sah sie mich an und lachte los, und ihre Katzenaugen waren kaum noch zu sehen. Ich lachte mit, mehr über sie als über die Situation, und Kerstin kreuzte die Beine und seufzte: »Ich mach mir schon wieder in die Hosen. Schluss jetzt, wir reißen uns zusammen. Los.« Sie holte tief Luft und fächerte sich mit der Hand Luft zu.
In Zimmer 9 lag Herr Neubart, ein fünfundfünfzigjähriger Abteilungsleiter aus der Molkerei. Er hatte eine Hydrozele am Sack und sollte morgen operiert werde. Am Nachmittag musste ich ihn rasieren. »Mach ihm mal schön die Eier glatt, Astrid. Das haben die in der Frühschicht nicht geschafft.« Ich hasste das. Diese ganze Arbeit auf der Urologie war nicht meine Welt. Männer, die ungeniert mit hinten offenen OP-Hemden herumliefen, zwischen den Beinen baumelte ihr Gemächt, wie Kerstin das nannte, und in der Hand hielten sie einen Urinbeutel wie eine Handtasche. Wann immer ich konnte, versuchte ich mich vor dem Rasieren zu drücken, aber die Schwestern ließen mich das gern machen, weil ich die Vorpraktikantin war und weil ich bald studieren würde. Außerdem gab es keine Männer im Pflegepersonal. »Dann erinnerst du dich vielleicht daran, was wir hier für eine Arbeit machen«, hatte die Stationsschwester zu mir gesagt, als sie mich das erste Mal in das fensterlose Bad schickte, in dessen Mitte es eine große Badewanne gab. Von beiden Seiten zu betreten. An der Wand in der Ecke stand eine Trage auf Rädern, und dort wurden die Patienten rasiert. Die Stationsschwestern wurden Ösen genannt, warum auch immer, und unsere auch noch Sue Ellen, weil sie eine ähnliche Fönfrisur hatte wie die Schauspielerin aus »Dallas« und weil auch sie gerne trank.
Herr Neubart aus Zimmer 9 lief also hinter mir her wie das Schaf zur Schlachtbank, in einem dunkelbraunen Bademantel mit weißen Streifen. Er
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