Was gewesen wäre
Geld verdiente, und der ganze Garten stand voller Zelte. Ich würde mal sagen, so dreißig, vierzig Stück. Dicht an dicht. Das war wirklich schön. Romantisch.«
»Gab es keinen richtigen Zeltplatz damals in Budapest?«
»Doch, es gab einen«, sagt Astrid. »Aber ich weiß nicht, warum wir da nicht hin sind. Vielleicht war der voll oder zu teuer, oder das hier war einfach cooler.«
Sie erinnert sich daran, wie sie damals diesen Weg entlangging vor zum Zug. Staubig war der Weg, und die Sonne stand noch hoch am Himmel. Aufgeregt und froh war sie, dass Tobias ihr die ganze Geschichte mit der ungarischen Freundin geglaubt hatte, die sie sehen wollte. »Die habe ich in einem Ferienlager in Waren (Müritz) kennengelernt, und seitdem schreiben wir uns auf Englisch«, hatte sie gesagt. Das stimmte sogar zur Hälfte, nur dass sie sich nie geschrieben hatten. Schnell hatte sie Tobias davon überzeugt, dass sie Dorka allein sehen müsste. »Wir haben uns so lange nicht gesehen. Vielleicht können wir sie ja dann morgen noch einmal treffen.« Sie sieht Tobias vor sich stehen. Braungebrannt, mit freiem Oberkörper. Er sieht sie an durch seine Nickelbrille, ein bisschen verschlafen und scheu, wie ein Tier. Seine Augen wirkten immer so, als ob sie sich in ihren Höhlen verstecken würden. »Dann kannst du in Ruhe durch die Plattenläden ziehen. Und ich langweile dich nicht.«
»Und wann bist du wieder da?«
Astrid hatte auf die Uhr gesehen und gesagt: »Ach, das wird nicht lange dauern. So gegen zehn Uhr spätestens. So dicke Freundinnen sind wir nun auch wieder nicht. Wenn ich mich langweile, bin ich auch schneller wieder da. Immerhin habe ich sie vor fünf Jahren das letzte Mal gesehen.«
Aber während sie in einem Jeansminirock und einem schwarzen T-Shirt Richtung Haltestelle ging, wusste sie, dass das nicht stimmte. Nicht wenn Julius wirklich im Hotel Gellért sein würde. »Ich warte auf dich da. Jeden Tag von 17 bis 18 Uhr warte ich, ob du kommst oder nicht«, hatte er ein paar Wochen vorher in Neubrandenburg zu ihr gesagt. Dann wollte er sie küssen, und sie hatte ihren Kopf zur Seite gedreht und fast vergessen zu atmen. Aber geküsst hatte sie ihn nicht.
Spätschicht
Von hinten sah Schwester Kerstin genauso aus wie immer. Eine zierliche Gestalt mit blonden, ein bisschen fransigen Haaren, die ihr fast bis zur Schulter reichten. Nur wenn sie sich ins Profil drehte, sah man ihren Babybauch, wie von außen aufgeklebt. Wie eine halbe Melone oder eher wie etwas Federleichtes sah der aus. Ich dagegen hatte schon vier Kilo zugenommen, seit ich als Vorpraktikantin auf der Urologischen Station des Bezirkskrankenhauses Neubrandenburg arbeitete. Ohne schwanger zu sein. Ständig hatte ich Hunger, ging auf Arbeit an den Kühlschrank und nahm mir etwas, das von den Patienten übrig geblieben war. Auch mein Schokoladeverbrauch war eindeutig zu hoch.
Schwester Kerstin ging vor mir, und ich schob den Essenwagen mit den vier großen gummierten Rädern über den Gang. Es quietschte wie von Turnschuhsohlen auf einem Hallenboden. Die Tassen klapperten leise, und auf dem zweistöckigen Wagen standen Körbe mit Brotscheiben, Teller mit Leberwurst, blassem Käse und Bierschinken. Wir hatten auf dem Gang schon das Nachtlicht eingeschaltet, und ich mochte diese Stimmung eigentlich, wenn es still wurde und die Klinik im Dämmerlicht lag. Aber wenn ich an Herrn Neubart in Zimmer 9 dachte, hätte ich am liebsten alle Lampen auf dem Flur wieder angemacht.
Vor mir auf dem Wagen, direkt unter meiner Nase, standen zwei große Emailleeimer, in denen Pfefferminztee und Muckefuck hin und her schwappten. Beides roch ekelhaft, streng, fast schon bitter, aber ich mochte es, die Getränke herzustellen. Kellenweise das Kaffeepulver in den Eimer zu schaufeln und einen Riesentopf kochendes Wasser darüber zu kippen. Oder aus zwei unsterilen Verbandsplatten einen Teebeutel zu knoten, der größer war als meine Faust. Der wackelte wie eine Boje im gelben Eimer, an dem außen eine Aluschöpfkelle hing. Noch zwei Zimmer bis zu Nummer 9.
Kerstin war nur drei Jahre älter als ich, aber das war schon das zweite Kind, das sie bekam. Ich war ein paar Mal nach der Arbeit mit zu ihr nach Hause gegangen. Nach der Frühschicht, die um sechs Uhr begann und um halb drei endete und nach der ich so müde war, dass ich schon im Bus neben Kerstin einschlief. Meine Waden summten richtig vom vielen Gerenne auf Station.
Wir holten dann Robin, den zweijährigen Sohn von
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