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Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregor Sander
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sich bei ihm eingehakt, und noch auf der Freiheitsbrücke meinte Paul, sie würde ihn ziehen, als wäre ihre Schrittfrequenz doppelt so hoch wie normal. Sie sagte nichts. Nur die Hacken ihrer Schuhe klackten im Takt. Paul fragte nichts. Seit sie auf der Treppe des Gellért Hotels gesagt hatte, dass sie frische Luft brauche, waren sie wortlos gelaufen, fast geflohen, und Paul wusste, dass es besser war, jetzt nichts zu fragen und nichts zu sagen. Zufällig gingen sie direkt auf das Café Central zu, dessen ausladende Kronleuchter von weitem leuchteten. Es saß kaum jemand auf den mit rotem Leder bezogenen Sesseln und Bänken. Astrid ließ sich darauf fallen, als wäre sie aus Seenot gerettet worden, und zog sich im Sitzen langsam den Mantel aus. Als der Kellner kam und ihr die Speisekarte reichte, lächelte sie ihm höflich zu und sagte: »Guten Abend.« Der Kellner antwortete selbstverständlich auf Deutsch. Astrid hätte das normalerweise nie getan, hätte nie in einem fremden Land »Guten Abend« gesagt, sondern wenigstens Englisch gesprochen. Sie bestellte Wiener Schnitzel und ein Glas Zweigelt, und mit jedem Bissen, den sie nahm, und mit jedem Schluck, den sie trank, schien sie sich zu beruhigen. Paul hatte natürlich Pörkölt bestellt und natürlich einen ungarischen Rotwein dazu, der ziemlich fad schmeckte, aber das sagte er nicht. Er sagte immer noch überhaupt nichts, sondern freute sich, dass die Kalbfleischstücke so mürbe waren, dass er sie mit der Gabel zerteilen konnte, und die Klöße diese Zwischenstufe zwischen Brot und Kartoffeln hatten, die er schon als Kind gemocht hatte. Sie aßen und tauschten Banalitäten aus. Astrid hatte ihren kleinen Auftritt nicht noch einmal erwähnt, und dann waren sie wieder zum Hotel geschlendert, noch ein Stück an der Donau entlanggegangen und schließlich ins Bett. Astrid schlief sofort ein, so wie sie immer und überall sofort einschlief.
    Paul liegt wach, und das, wie ihm die Uhr auf seinem Handy sagt, seit anderthalb Stunden. Es ist kurz vor ein Uhr.
    Muffig riecht das Zimmer, auf eine Art vertraut, aber auch fremd. Nach Mottenkugeln oder einem ungarischen Scheuermittel. Langsam setzt Paul sich auf. Er überlegt, ein Bad einzulassen und sich im warmen Wasser einen runterzuholen, aber das Brennen in seiner Luftröhre, das Gefühl, Durst zu haben, aber eben nicht nach etwas Flüssigem, sondern nach Rauch, hat ihn komplett gefangengenommen. Auch der Gedanke an Sex oder Ersatzsex lässt dieses Ziehen hinter dem Brustbein nicht verschwinden. Es ist, als ob die Luftröhre plötzlich hart wird, wie aus Metall, und man den Speichel nur noch mühsam herunterschlucken kann. Paul fühlt dort ein kaltes Brennen. Früher hätte er noch im Dunkeln eine Schachtel Zigaretten aus der Innentasche seines Jacketts gefummelt, wäre leise auf den Balkon gegangen und hätte eine Zigarette geraucht, den Stummel auf die Straße geschnipst und sich dann sofort noch eine angesteckt. Es gibt Orte, die für das Rauchen gemacht sind, und dieser bröckelnde Balkon des Hotel Gellért hoch über der Donau gehört dazu. Schiffe sind gut, der Strand oder Bahnhöfe, die Fremde überhaupt.
    Astrid seufzt leise. Sie dreht sich im Schlaf. Paul vermutet, dass sie sich auf den Rücken gedreht hat. Leise beginnt sie zu schnarchen. Er lächelt und weiß, dass sie nun auf dem Rücken liegt. Mit entspannten Gesichtszügen und leicht geöffnetem Mund. Vor dem Hotelrestaurant, neben dieser Ameisenstraße am Türrahmen, hatte sie ausgesehen, als wäre ihr ein Geist erschienen. »Bin ich denn kompliziert?«, hat sie ihn einmal in Berlin gefragt, und er hatte gewusst, dass diese Frage kommen würde, denn Astrid hatte ihm einmal erzählt, ihr Mann habe ihr das am Ende vorgeworfen. »Bei dir ist immer alles kompliziert. Bei dir geht nichts normal. Man muss sich immer schon vorher überlegen, was du willst, und dann ist es doch ganz anders. Wie bei einer Dreijährigen.« Paul hatte Astrids Empörung gespürt, ihre Wut darüber, obwohl diese Sätze vor über drei Jahren gesagt wurden. Aber schon da hatte er gewusst, dass Astrid ihn das fragen würde: »Bin ich kompliziert?«, und so hatte er genug Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Astrid wollte in Ruhe gelassen werden und wünschte sich trotzdem, dass er den Moment erkannte, wenn sie seine ganze Aufmerksamkeit brauchte. Sie wollte nicht, dass man sich um sie kümmert. Als er an ihrem ersten gemeinsamen Sonntag aufstand und fragte, was sie vom Bäcker wolle, sagte

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