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Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregor Sander
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Waschbecken des Klos gewaschen und dann davor in einer langen Reihe auf Isomatten geschlafen. Bestimmt fünfzig Leute. Wie die sieben Zwerge. Also, die fünfzig Zwerge.«
    »Ihre Kraxen?«
    »Rucksäcke, ostdeutsch für Rucksäcke.«
    Paul sieht den schmalen Gang entlang, unter dessen Decke unverkleidete Elektrokabel laufen.
    »Und da habt ihr auch geschlafen, du und dein Tobias? Wie hast du den eigentlich kennengelernt?«
    »Den habe ich in meinem Vorpraktikum kennengelernt. Im Jahr vor dem Studium, in dem ich auf der Urologie in Neubrandenburg gearbeitet habe. Tobias kam von der Armee zurück und musste auch noch ein paar Monate arbeiten bis zum Studium. Dann haben wir uns verliebt, na ja, und sind hierher gefahren im August.«
    »Und habt auf dem Bahnhof geschlafen?«, fragt Paul und wirft seinen Kaffeebecher in einen runden Mülleimer aus Beton, ein paar Meter entfernt. Er trifft.
    »Die erste Nacht schon. Wir hatten ja kein Geld damals. Man durfte einmal im Jahr Forint für zwei Wochen umtauschen. Und das war immer noch viel zu wenig. Und dann wollte man das ja auch für andere Sachen ausgeben. Klamotten, Platten und so.«
    »Weil ihr einfach zu konsumorientiert gewesen seid«, sagt Paul und fängt Astrids Hand ab, die nach ihm schlägt.
    Sie deutet auf den Zeitungskiosk vor ihnen, in dem ein älterer Mann mit grauem Bart und einer schwarzen Weste über dem Hemd hinterm Tresen steht.
    »Hier habe ich das nicht ausgehalten. Das habe ich Tobias auch gesagt. Wir hatten kein Schließfach, die wurden richtig verkauft, wenn eines leer war, und mir war das auch unheimlich, so auf dem nackten Boden in einem Bahnhof zu schlafen. Am Morgen um sechs kamen zwei Polizisten mit einer riesigen Eisenstange und ließen die ein paar Mal auf den Fliesenboden knallen. Das hat so gescheppert, da hast du gestanden in deinem Schlafsack.«
    Paul guckt vor sich auf den Fußboden. Da sind keine Fliesen, sondern große graue Steinplatten. Astrid folgt seinem Blick und zuckt mit den Schultern. »Ja, ich weiß auch nicht, aber da waren Fliesen, meine ich. So blauweiße. Wir haben die Zähne geputzt in diesem Scheißbahnhofsklo und sind dann raus in den Morgen. Tobias hatte noch einen Plan B. Tobias hatte immer einen Plan.«
    Mit einem hellgrünen Vorortzug fahren sie nach Szentendre. Paul sieht diesen schönen renovierten Bahnhof und eine riesige Shoppingmall, die sich daran anschließt, und kann sich die Gänge unter dem Nyugati Pu jetzt schon nicht mehr vorstellen. Er blättert in seinem Reiseführer und liest halblaut »
1926 wurde Szentendre zur Wirkungsstätte einer Künstlerkolonie. Deren Mitglieder arbeiten dort und bieten ihre Werke in den kleinen Galerien dem Publikum an
. Das klingt furchtbar.«
    »Ja, das war schon damals furchtbar«, sagt Astrid. »Deshalb steigen wir hier schon aus.« Der Vorortbahnhof ist klein und unauffällig. Weiter hinten ist eine Hochhaussiedlung zu erkennen, die bessere Tage gesehen hat. Astrid bleibt nach einem kurzen Weg vor einem Garten stehen. Er unterscheidet sich nicht von einem im Berliner Umland, aber Paul ist von dem Gartenzwerg auf dem Nachbargrundstück fasziniert. Ein kleiner dicker SA-Mann mit Knollennase und Hakenkreuzbinde am Oberarm. Daneben liegt ein schwarzer Schäferhund aus Gips und fletscht die Zähne. Während Paul überlegt, ob der Besitzer das ernst oder ironisch meint, sagt Astrid: »Dann haben wir hier gewohnt, für 10 Mark die Nacht.«
    »Genau hier in dieser Datsche?«, fragt Paul und guckt auf die kleine grüne Holzlaube, von der die Farbe blättert. Sie steht ein paar Meter vom Zaun entfernt, davor und dahinter ist Rasen, und dann kommen an den Rändern ein paar Sträucher. Alte Obstbäume sind über die Wiese verteilt.
    »Sag nicht Datsche, das hört sich so scheiße an. Nein, ich weiß nicht, ob es dieser Garten hier war. Aber er sah so aus wie dieser. Neben dem Häuschen standen ein paar Kochplatten mit einer Propangasflasche, und im hinteren Teil zwischen den Bäumen gab es eine Dusche. Die war mit so gelber Wellplaste umgeben. Eine richtige Duschkabine unter freiem Himmel. Man hat unten die Beine der Duschenden gesehen. Und oben drauf stand ein großes Fass, aus dem das Wasser kam. Wenn du abends geduscht hast und nicht gerade einer vor dir war, dann war das Wasser sogar warm von der Sonne den ganzen Tag.«
    Paul lehnt sich an den Zaun. »Und kannte dein Tobias den Besitzer?«
    »Nein, die Adresse hatte er irgendwoher. Das war ein Rentner, der sich damit ein bisschen

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