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Was gewesen wäre

Was gewesen wäre

Titel: Was gewesen wäre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregor Sander
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immer intensiver in der Küche, und ihre Haare baumelten dabei in der Schokoladenmousse. Seine Hände begannen ihre Bluse aufzuknöpfen, aber sie schob ihn dann irgendwann aus der Wohnung. »Jetzt lass uns mal langsam machen, wo die Kinder da sind. Nächstes Mal kannst du hierbleiben.« Paul ging die Treppen hinunter, und Astrid sah ihm hinterher und danach aus dem Fenster, wie er langsam und mit etwas hochgezogenen Schultern die Straße hinunterging, und sie hoffte, dass er sich noch einmal umdrehen würde, bevor er die U-Bahn-Station erreichte. Was er nicht tat, aber dafür rief Samuel aus seinem Zimmer: »Der ist in Ordnung.« Astrid stellte sich neben ihn an sein Hochbett, das ihr nur bis zur Brust reichte und das Samuel langsam zu klein wurde, so wie ihm sein ganzes Leben irgendwie zu klein wurde mit seinen zwölf Jahren. Sie strich ihm die Haare aus der Stirn und wollte ihn küssen, aber er entzog sich und sagte: »Der kann wiederkommen. Gute Nacht, Mama.«
    »Der Kaffee ist tatsächlich gut«, sagt Paul, und Astrid reagiert nicht darauf. Sie steht an eine schmale schäbige Betonsäule gelehnt, und ihr Blick verliert sich in dem Gewühl der Leute, die sich durch die niedrigen Gänge im Untergeschoss des Nyugati pu schieben. Neben ihnen ist ein kleines Schuhgeschäft, und daneben verkauft jemand Zeitungen und Souvenirs. Das Licht ist hart und lässt diese schlauchartigen Gänge unter dem Westbahnhof wirken wie mitten in der Nacht. Der Kaffee ist von McDonald’s. Am Eingang des schönen Bahnhofsrestaurants hatten sie gestanden, und ihr Blick war über die typische Plastikwelt der Burgerkette gegangen, die sich in der alten Pracht ausgebreitet hatte. »Ich krieg das Kotzen, immer wieder, wenn ich das sehe«, hatte Paul gesagt.
    Astrid hatte mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Was soll’s. So sieht es aus. Wenn die nicht ihre BSE-Schnitten verkaufen würden, dann würden hier vermutlich drei Alkoholiker sitzen, und die Gardinen vor den Fenstern wären noch aus den achtziger Jahren. Guck dir an, wie voll das hier ist. Wer, bitte schön, geht denn heute noch in ein Bahnhofsrestaurant?« Paul sah sie an, und sie lachte: »Komm schon, du Romantiker, der Kaffee ist ganz gut. Zumindest wenn es ein McCafé gibt wie hier. Die gießen dir nicht den ganzen Becher voll mit Milch und nennen das dann Cappuccino. Und so wie ich die Brüder kenne, bekommt jede Filiale das genau vorgeschrieben, wie viel Milch da reindarf. Weltweit. Das hat auch seine guten Seiten.« Paul wurde trotzdem das Gefühl nicht los, dass sie den Kaffee hier nur kaufte, um ihn zu provozieren.
    Aber jetzt stehen sie da im Untergeschoss des Bahnhofs und sehen auf die vielen Menschen, die sich aneinander vorbeischieben. Eine Bettlerin mit einem roten Kopftuch klappert mit ein paar Münzen in einem Becher und setzt erst kurz vor Astrid ein leidendes Gesicht auf. Davor sah sie eigentlich auch aus wie eine langsame Passantin. Ihr rechtes Bein ist stark angeschwollen, unter einer schwarzen Strumpfhose, die sich dünn darüber spannt. Astrid kramt das Wechselgeld von den Kaffees aus ihrer Manteltasche und lässt es in den Becher fallen.
    »Und erinnert dich das hier nun an etwas?«, fragt Paul. Astrid schlingt ihren Arm um seinen Hals, zieht ihn zu sich ran und drückt ihn dann ein wenig nach unten, wie bei einer Rangelei auf dem Schulhof.
    »Hier sind wir angekommen. Damals. Mit Tobias, meinem damaligen Freund und heutigem Exmann. Wir kamen nachts an, das weiß ich noch. Oben natürlich, im Bahnhofsgebäude. Es muss so gegen zehn oder elf gewesen sein. Dann sind wir hier runter, weil wir wussten, dass man hier schlafen kann.«
    »Hier, ihr habt hier geschlafen? Unter dem Bahnhof? Wo?«
    »Es sah so ähnlich aus wie hier. Komischerweise habe ich es sogar ein bisschen sauberer in Erinnerung und nicht so voll, aber das kann auch daran liegen, dass es ja Nacht war. Es gab so eine Reihe Gepäckschließfächer vor der Wand, und da wohnten richtig Leute. Vor allem Ostler.«
    »Die wohnten in den Schließfächern?«
    »Ja, du Honk, die wohnten in den Schließfächern. Die haben immer ihre Beine angezogen und die Luft angehalten und dann von innen zugeriegelt. ›So, gute Nacht, Budapest‹, jetzt wird geschlafen.«
    Paul guckt ratlos, und Astrid mag es, wenn er manchmal so guckt. Er ist so selten ratlos.
    »Nein, es gab nicht dieses Neonlicht. Das war gelber. Die hatten hier ihre Klamotten in den Schließfächern, ihre Kraxen und Schuhe und so. Die haben sich am

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