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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesus Carrasco
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    I n dem staubigen Erdloch drangen die hallenden Rufe der Männer, die ihn jagten, an sein Ohr, und er bemühte sich, jeden Einzelnen in die Grenzen des Vergessens zu verweisen. Stimmen, rauh wie verkohlter Ginster. Der Junge lag zusammengekauert auf der Seite, den Körper z-förmig in die Kuhle gezwängt, sodass er sich kaum rühren konnte. Die Arme um die Knie geschlungen oder als Kissen unter den Kopf geschoben, eine winzige Nische für den Proviantsack. Mit Strauchwerk, Zweigresten vom Baumschnitt und zwei robusten Ästen, die gleichzeitig als Träger dienten, hatte er das Loch abgedeckt. Er reckte den Hals und hielt den Kopf in der Schwebe, um deutlicher hören zu können, spitzte mit zusammengekniffenen Augen die Ohren auf der Suche nach der Stimme, die ihn zur Flucht gezwungen hatte. Er fand sie nicht, auch kein Bellen, und war erleichtert, da er wusste, dass nur ein gut abgerichteter Köter sein Versteck aufspüren konnte, ein Retriever oder ein erfahrener Trüffelhund. Vielleicht noch ein englischer Bluthund, eines dieser Viecher mit kurzen, wolligen Beinenund Schlappohren, wie er sie einmal in einer der Zeitungen aus der Hauptstadt gesehen hatte.
    Doch zu seinem Glück taugte die karge Ebene nicht für Exotik. Hier gab es nur Windhunde. Mageres Fleisch auf langen Knochen. Rätselhafte Tiere, die in vollem Tempo hinter Kaninchen herjagten und sich nicht erst mit Wittern aufhielten, allein dafür bestimmt zu hetzen und zu reißen. Mit roten Striemen als Erinnerung an die Peitschenhiebe ihrer Herren. Die gleichen, die in der kargen Heimat auch Frauen und Kinder zeichneten. Und nun hockte er in seinem kleinen staubigen Erdloch. Verloren zwischen Hunderten von Gerüchen, die die Tiefe gewöhnlich den Würmern und Toten vorbehält. Gerüche, denen er nicht ausgesetzt sein sollte, die er gesucht hatte. Gerüche, die ihn von der Mutter entfernten.
    Sobald der Junge Windhunde sah oder an sie dachte, kam ihm ein Mann aus dem Dorf in den Sinn. Ein Krüppel, der auf einem dreirädrigen Gefährt durch die Gassen holperte, vorne eine Kurbel, an der er gebeugt wie ein Leierkastenspieler drehte. Am späten Nachmittag ließ dieser stets die Häuser hinter sich und fuhr die gestampften Lehmwege ab, die einzigen, die er mit seinem Rollstuhl bewältigen konnte. Die Hunde begleiteten ihn, an ausgefranste Hanfseile geleint, die ihnen um die Hälse gebunden waren. Es war ein erbärmlicher Anblick, wenn der Mann in seinem unbeholfenen Gefährt durch die Gegend streifte, und er hatte sich immer gefragt, warum er seinen Karren nicht von den Tieren ziehen ließ. In der Schule erzählte man sich, sobald der Krüppel eines seiner Viecher leid sei, knüpfe er es an einem Olivenbaum auf.In seinem kurzen Leben hatte der Junge bereits Dutzende von gehenkten Hunden gesehen, die an fernen Bäumen auslüfteten. Mit verrenkten Knochen gefüllte Fellsäcke, wie riesige Kokons.
    Er spürte die Nähe der Männer und machte sich bereit, keinen Laut von sich zu geben. Schon hörte er seinen Namen vielfältig zwischen den Bäumen schallen wie ein Echo. In seinem Versteck kauernd dachte er, darin bestünde vielleicht sein ganzer Trost: zu hören, wie sie bei Tagesanbruch zwischen den Olivenbäumen ein ums andere Mal nach ihm riefen. Er erkannte die Stimmen des Schankwirts und eines der Maultiertreiber, die den Sommer im Dorf verbrachten. Obwohl er die Stimmen nicht unterscheiden konnte, vermutete er, dass auch der Briefträger und der Korbmacher dabei waren. Unverhofft erfüllte ihn ein warmes Wohlbehagen. Eine dumpfe, kindliche Aufwallung, die ihm Gänsehaut bereitete. Er fragte sich, ob sie genauso eifrig nach seinem Bruder suchen würden, ob es diesem auch gelänge, so viele Männer auf den Plan zu rufen. Angesichts dieses vielstimmigen Chors spürte er, dass er uralte Gemeinschaftsbande entstaubt hatte, und für einen Moment verzog sich sein Groll gegen die Häscher. Er hatte es geschafft, die Männer des Dorfes um sich zu scharen, all die kräftigen, sonnengegerbten Arme, die den Pflug in der Erde versenkten und das Korn in die Tenne füllten. Er hatte ein Ereignis ausgelöst. Die Notwendigkeit, sich zusammenraufen zu müssen, hatte alte Feinde womöglich gezwungen, gemeinsam die Ärmel hochzukrempeln. Er fragte sich, ob in ein paar Wochen oder Jahren noch etwas von diesem Ereignis bliebe.Ob man nach der Messe oder in der Schenke darüber redete. Er dachte auch an seinen Vater, stellte sich vor, wie er dem einen oder anderen Dorfbewohner den

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