Was im Leben zählt
meinst du damit? Du bist nicht überrascht, mich zu sehen?»
«Nicht wirklich.» Sie zuckt die Achseln. «Du warst schon immer wie ein offenes Buch.»
«Ich dachte, du wärst weggezogen.» Ich lenke ab, weil ich keine Ahnung habe, wovon sie spricht. Bis zur siebten Klasse gehörte Ashley mit Susanna zu meinem Beste-Freundinnen-Trio. In der Pubertät löste sich unsere Dreiecksbeziehung auf. Mit einem Mal ging es nur noch um Hormone und explodierende Brüste und Boys, Boys, Boys . Ashley zog es zu den Typen, die vor der Mittelschule abhingen, wo sie mit gnadenlosem Spott den Strebern hinterherjohlten, und später in die Kifferclique, die sich auf dem Parkplatz traf, während Susie und ich uns an die Sportskanonen, Cheerleader, den Prom-Night-Adel hängten. Das Letzte, was ich von ihr gehört hatte, war, dass sie nach zwei Jahren Berufsvorbereitung und anschließendem Besuch der Kosmetikschule nach Süden in Richtung Idaho verschwunden war.
«Ich bin vor ein paar Wochen zurückgekommen», erklärt sie. «Hab nicht viel Wind darum gemacht.» Sie zögert. «Meiner Mutter geht es nicht gut. Herzkrank.»
«Das tut mir leid», sage ich und meine es auch so. «Bitte grüß sie von mir.» Ashleys Eltern waren immer nett zu mir, auch dann noch, als wir beide uns schon längst auseinandergelebt hatten. Als meine Familie während der High School zerbrach, standen sie vor unserer Tür, mit Thunfischauflauf und einer Einladung zum Abendessen im Gepäck. Ich bedankte mich, schlug die Einladung jedoch aus und behauptete, wir hätten alles im Griff und bräuchten keine Hilfe. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich ihnen je die Tupperdosen zurückgebracht habe.
«Und was hat es mit diesem Zelt auf sich?», frage ich und sehe mich neugierig um.
«Ich gebe Séancen», sagt sie, als könnte ich damit irgendetwas anfangen.
«Séancen?»
«Ja, du weißt schon, Handlesen, Kartenlesen, den Leuten die Zukunft voraussagen und so. Ihr Schicksal deuten.»
Ich mache ein ziemlich ratloses Gesicht, doch dann fällt mir wieder ein, dass Ashley damals in der Schule schon so was behauptet hatte – dass sie den Leuten zum Beispiel voraussagen könne, wann sie sterben würden. Unheimliche Behauptungen, mit denen sie sich schließlich selbst zur Außenseiterin machte. Manchmal streifte sie mich in der Aula und flüsterte im Vorbeigehen Sachen wie: «Tilly Everett, ich weiß was über dich, das du nicht weißt!» Mir wurde nie klar, ob dahinter der Neid auf meine Beliebtheit steckte oder ob es nur harmlose Neckereien waren, ein winziger Funken Übermut, das letzte Überbleibsel unserer ehemaligen Kinderfreundschaft.
«Lass mich dir die Zukunft lesen», sagt sie. «In der Schule hast du mich nie gelassen. Die Zeit ist reif. Das spüre ich.»
«Äh, klar, warum nicht», sage ich nach kurzem Zögern. «Mein Leben ist allerdings in bester Ordnung.»
Ashley zieht eine verächtliche Grimasse. «Der Meinung warst du schon immer. Du hast Probleme immer gern verdrängt.»
«Stimmt doch gar nicht!», erwidere ich, augenblicklich in der Defensive. «Ich liebe mein Leben. Ich habe übrigens Tyler geheiratet. Wir versuchen gerade, ein Kind zu bekommen.»
«Als wäre das die Antwort auf alle Fragen. Als wären Tyler und Kinder die Lösung für alles», sagt sie und tritt hinter den wackeligen Tisch.
«Also für mich schon», sage ich. «Außerdem suche ich überhaupt nicht nach Antworten.» Ich verstumme, sauer auf mich selbst. «Sag mal, Ashley, worauf willst du eigentlich hinaus?»
«Na, ein bisschen Klarheit könntest du schon gebrauchen, Silly Tilly. Erkenntnis lautet das Zauberwort. Und dabei möchte ich dir gerne helfen.»
Ich wünschte, sie würde aufhören, mich so zu nennen. Ich komme mir vor, als wäre ich wieder neun Jahre alt.
«Setz dich», befiehlt sie und deutet auf einen klapprigen Stuhl vor dem Tisch. Ich gehorche, ohne zu wissen, wieso. Sie holt eine mit Wasser gefüllte Glasschale, zwei kleine Kerzen, ein Glasröhrchen mit grauem Pulver und eine Gemüsewurzel.
Sie lässt sich mir gegenüber auf einen Stuhl plumpsen. Die Falten in ihrem Gesicht ziehen nach unten, und auf ihrer Oberlippe bilden sich runde Schweißperlen. Sie verschränkt ihre Finger mit meinen und schließt die Augen. Ich frage mich, ob ich es ihr nachmachen soll, und kneife fest die Augen zu, öffne sie aber sofort wieder, weil Ashley ihre Hände zurückzieht, als hätte sie einen elektrischen Schlag erhalten.
«Oh!», sagt sie sichtlich alarmiert. «Oje!» Sie
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