Was - Waere - Wenn
daß Tim recht hat.
Bevor er mich weiter ärgern kann, taucht Georg auf. Georg ist im
Drinks & More eine feste Einrichtung, seit zwei Jahren ist er jeden Tag
hier. Schwer zu sagen, wie alt er ist, auf alle Fälle über sechzig. Meistens
hockt er hier von nachmittags bis spät nachts und trinkt einen Kaffee nach dem
nächsten. Bezahlt hat er allerdings noch nie, Tim läßt ihn nicht. Jedes Mal,
wenn Georg den Versuch startet, Geld auf den Tisch zu legen, drückt Tim es ihm
wieder in die Hand.
Ich habe Georg nie gefragt, aber ich glaube, er hat kein Zuhause.
Dabei wirkt er nicht wie ein Penner, obwohl er immer die gleichen Sachen trägt:
einen braunen Cordanzug mit passender Weste, darunter ein hellblaues Leinenhemd
und eine akkurat sitzende gelbe Krawatte. Sehr gepflegt und sauber ist er, sein
Bart und seine Haare sind immer ordentlich frisiert, und auch seine Schuhe sehen
nicht so aus, als wären sie sein einziges Paar. Georg erinnert mich an einen
altmodischen Professor für Literatur, Papyriologie oder so. Vor allem, wenn er
einen über den Rand seiner Brille hinweg ansieht: ein weiser Blick. Wenn die
letzten Gäste fort sind, sitze ich gern mit ihm bis in den frühen Morgen da und
philosophiere über dies und das. Schon komisch, nicht zu wissen, woher er
kommt, wohin er geht und was er macht, wenn er nicht bei uns ist. Fast habe ich
Angst, er könnte eines Tages nicht mehr auftauchen. Sich einfach in Luft
auflösen, wie ein Geist. Ich nehme mir vor, ihm irgendwann mal nachzugehen,
wenn er sich auf den Heimweg macht. Nur, um zu gucken, wo er wohnt. Das wäre
gut zu wissen.
»Hallo, Fräulein Charlotta.« Stimmt, es gibt außer meinen Eltern
noch jemanden, der mich manchmal Charlotta nennt, hätte ich fast vergessen.
Aber Georg meint das glücklicherweise nicht ernst.
»Pssst«, raune ich ihm zu und lege mit verschwörerischer Miene einen
Finger an meine Lippen. »Ich hab hier einen Ruf zu verlieren!«
»Ach ja?« Georg zieht interessiert eine Augenbraue hoch. Dann dreht
er sich zu Tim um. »Sie trägt wieder das T-Shirt!«
Tim nickt bedeutungsschwanger.
»Ihr geht mir auf den Sender. Alle beide«, fauche ich meine Herren
an und verschwinde in der Küche, um Georgs große Spezialtasse zu holen. Heute
würde ich sie ihm am liebsten auf den Kopf hauen, ich neige manchmal zu
Überreaktionen.
Als ich den Becher eineinhalb Minuten später bis zum Rand gefüllt
vor ihn hinstelle, wirft Georg mir einen versöhnlichen Blick zu.
»Seien Sie bitte nicht ungnädig mit einem alten Herrn, der sich auch
mal einen Spaß erlauben will«, bettelt er. Dazu sage ich jetzt einfach mal
nichts. Statt dessen gehe ich zurück zur Bar und greife aus dem Regal unter der
Musikanlage eine vier Wochen alte taz, die ich Georg mit einigem Schmackes auf
den Tisch werfe.
»Ach, ist sie nicht ganz bezaubernd, unser Fräulein Charlotta?«
fragt Georg, was Tim mit einem zustimmenden Brummen beantwortet. Fräulein
Charlotta macht einen Hofknicks und rafft ihren imaginären Prinzessinnen-Rock
zusammen. Mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck beginnt Georg seine Lektüre.
Er liest immer alte Zeitungen. Weil man dann nichts so heiß ißt, wie es gekocht
wird, sagt er. Wenn er sich über irgend etwas aufregt, ist es zu dem Zeitpunkt,
wenn er es liest, mit dieser Methode meistens schon so lange her, daß es gar
keine Rolle mehr spielt.
Kopfschüttelnd mache ich mich daran, auf den restlichen Tischen die
Kerzen anzuzünden und kleine Schälchen mit Erdnüssen und Salzbrezeln zu
verteilen. Tim legt nämlich großen Wert auf »Gemütlichkeit«. Jeder soll sich
gleich wie zu Hause fühlen, sobald er das Drinks & More betritt – und wie
zu Hause sieht es auch aus: Die Einrichtung plüscht extrem, das Gegenteil des
derzeit angesagten schnörkellosen Retro-Styles. Anstelle von Stühlen gibt es
alte, ausgemusterte Sofas, an den Wänden hängen vergilbte
Schwarz-Weiß-Fotografien, Emaille-Werbetafeln und was Tim sonst noch bei seinen
regelmäßigen Flohmarktstreifzügen ergattert hat. In einer Ecke steht ein
antiker gußeiserner Ofen, der im Winter gemütlich vor sich hin bollert. Im
Sommer stellt Tim einfach ein paar Stiefmütterchen in die offene Luke, seiner
Meinung gibt das dem Laden ein gewisses Landhaus-Flair.
Neben dem Gang zu den Toiletten steht ein alter Flipper-Automat, auf
dem man »Flash-Gordon« spielen kann. Jedes Mal, wenn die aktuelle High-Score
geknackt wird, ertönt scheppernd und quäkend Freddie Mercury. Man soll ja nicht
schlecht
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