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Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher (German Edition)

Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher (German Edition)

Titel: Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerald Hüther
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»Das hat das Schicksal so vorbestimmt«, »Das ist von Gott so gewollt, so hat er uns geschaffen«, waren die häufigsten Erklärungen vor der Aufklärung. »Das liegt an unseren Genen«, »Das ist unser steinzeitliches Verhaltensprogramm« hieß es dann auf der Welle des Biologismus im vorigen Jahrhundert. Und als die Überzeugungskraft auch dieser Erklärungen zu verblassen begann, gewannen Hirnforscherbefunde an Attraktivität, die sich so interpretieren ließen, als könnten wir Menschen gar keine freien Entscheidungen treffen.
    Die Hirnforscher hatten herausgefunden, dass immer kurz vor dem Moment, in dem wir uns entscheiden, im Hirn bereits ein Erregungsmuster aufgebaut wird, das genau die Handlung lenkt, zu der wir uns entscheiden. Wenn wir also denken, wir hätten eine eigene Entscheidung getroffen, ist im Hirn alles bereits vorher entschieden worden. Diese letzte und modernste Erklärung, mit der die Willensfreiheit des Menschen scheinbar als Illusion entlarvt werden konnte, wurde von vielen aufgeklärten Menschen dankbar ergriffen.
    Aber wie sollte jemand eine Entscheidung treffen oder eine Handlung ausführen, wenn nicht im Gehirn zunächst die für die betreffende Entscheidung oder die jeweilige Handlung erforderlichen neuronalen Netzwerke und synaptischen Verschaltungsmuster in einen aktivierten Zustand versetzt werden? Ohne diese vorangehende Aktivierung weiß doch kein Mensch, zwischen welchen Alternativen er eine Entscheidung treffen kann bzw. ob er überhaupt in der Lage ist, eine Handlung, für die er sich entscheidet, nachfolgend auch auszuführen. Deshalb lässt sich vor einer freien Willensentscheidung eben auch immer ein bestimmtes, für die Ausführung erforderliches Aktivierungsmuster im Gehirn nachweisen. Wer ein Rad schlagen oder einen Handstand machen wollte, ohne vorher im Gehirn die dafür erforderlichen Netzwerkstrukturen zu aktivieren, würde sich den Hals brechen. Man kann also nur etwas wollen, wenn man zum Zeitpunkt der Entscheidung auch sicher ist, dass man das, was man will, auch wirklich umsetzen kann. Aus neurobiologischer Sicht ist es im Zusammenhang mit der Frage, ob der Mensch einen freien Willen hat, daher nicht interessant, ob es in seinem Hirn kurz vor einer Entscheidung irgendwo »flackert«, sondern ob eine Person überhaupt in der Lage ist, Entscheidungsprobleme vorausschauend zu erkennen und zwischen mehreren Alternativen wählen zu können.
    Keine freien Wahlmöglichkeiten haben beispielsweise all jene Menschen, die unter Bedingungen leben müssen, die es ihnen nicht ermöglichen, ihre körperlichen oder psychischen Grundbedürfnisse zu befriedigen: Hierzu zählen Hunger, Durst, Armut, Not, Krieg, Elend, Terror ebenso wie das ungestillte Bedürfnis nach Verbundenheit und Zugehörigkeit oder das ungestillte Bedürfnis nach Wachstum, Potentialentfaltung, Autonomie. Einen freien Willen kann also niemand haben, dem das, was er zum Leben braucht, vorenthalten wird. Genauso wenig können all jene Menschen einen freien Willen entwickeln, die in Abhängigkeit geraten und manipulierbar geworden sind, die nach schweren traumatischen Erfahrungen ohnmächtig und psychisch zerrüttet zurückgeblieben sind, die geistig verwirrt, dement, zwanghaft, psychotisch oder auf andere Weise psychisch gestört sind und die Fähigkeit zu bewusster Selbstreflexion und Selbstregulation verloren haben. Einen freien Willen kann auch niemand entwickeln, dessen präfrontaler Cortex nicht mehr richtig funktioniert oder noch nie funktioniert hat.
    Auch jemand, der nicht viel weiß, nicht viel gelernt hat und nicht viel kann, ist in seiner Willensfreiheit entsprechend eingeschränkt. Wo also Bildung auf der Strecke bleibt, geht auch der freie Wille verloren. Und überall dort, wo Menschen in Familien, in Bildungseinrichtungen, am Arbeitsplatz als Objekte behandelt und verwaltet werden, wo sie als Ressourcen für bestimmte Aufgaben funktionalisiert werden oder sich selbst an die Erfordernisse und Erwartungen, die an sie gestellt werden, anpassen und sich auf diese Weise selbst funktionalisieren, bleiben Menschen in der Entfaltung ihrer Willensfreiheit ebenfalls beschränkt. Das gilt auch dann, wenn sie sich mit den herrschenden Verhältnissen arrangiert haben und von der so erworbenen Unfreiheit nichts merken und meist auch nichts wissen wollen. Wer also wirklich möchte, dass Menschen frei werden, müsste sich um die Schaffung von Lebensbedingungen bemühen, die eine Herausformung souveräner und

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