Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher (German Edition)
dem, was ein Erwachsener bisher für seine »Arbeit« gehalten hat, ohnehin zu Ende. Die Kletterei auf der Karriereleiter ist vorbei. Die Familie ist versorgt. Das Haus ist gebaut. Die Kinder sind ausgeflogen, und andere haben aufgehört, noch viel zu erwarten. Man hat seine Pflicht erfüllt, seine Rolle tapfer zu Ende gespielt, und nun ist man von all diesen Pflichten entbunden. Endlich ist man wieder frei. Vielleicht zum ersten Mal im Leben. Die Realität sieht für die Mehrzahl der aus dem Berufsleben ausscheidenden Personen freilich ganz anders aus: ausschlafen, Zeitung in Ruhe lesen, ordentlich frühstücken, in die Stadt gehen, den Garten bestellen, Freunde besuchen, verreisen, die Briefmarkensammlung neu sortieren, die Rentenunterlagen ordnen, die Kinder besuchen, ins Kino gehen, das Haus reparieren, die Werkstatt aufräumen, das Auto putzen … Es gibt so viel zu tun, wenn man nicht mehr »arbeiten« muss. Die ersten Monate macht es noch Spaß, danach fängt es an Routine zu werden, und spätestens nach ein paar Jahren wird dieses Leben irgendwie hohl, inhalts- und sinnlos. Dann treten die ersten körperlichen Gebrechen zutage, man wird krank, und irgendwann ist das Leben zu Ende.
Nicht viel besser sieht es für all jene aus, die dem Ende ihrer Berufstätigkeit mit Verunsicherung, bisweilen sogar mit mehr oder weniger offen gezeigter Angst entgegenblicken. Das sind meist die Erfolgreichen, die mit ihrem Beruf Identifizierten, die von ihrer Tätigkeit, ihrer Verantwortung, ihrem Einfluss und ihrem beruflichen Ansehen Getragenen. Ihnen erscheint ihre bevorstehende Pensionierung wie ein schwarzes Loch, in das sie hineinstürzen.
Manche finden sich, wenn es so weit ist, resigniert damit ab und versuchen, das Beste daraus zu machen, etwas freudloser freilich als diejenigen, die wenigstens noch froh waren, als ihre Erwerbstätigkeit zu Ende ging. Aber dafür sind die Beschäftigungen, denen diese beruflich Erfolgreichen jetzt nach ihrer Pensionierung nachgehen, auch etwas attraktiver. Eine Weltreise vielleicht oder ein Jahr im Wohnmobil de luxe durch Europa, Besuche von Ausstellungen, Sammeln von Kunstobjekten, Vorträge halten, Bücher lesen, sich auf der Seniorenuniversität weiterbilden … Aber irgendwann wird auch das alles zur Routine, die Lust am Leben schwindet dahin und das Ende naht, auch wenn sich die Ärzte noch so viel Mühe geben, es zu verlängern.
Die letzte Gruppe der im Beruf Erfolgreichen verfällt angesichts ihrer bevorstehenden Pensionierung nicht in Passivität, sondern bemüht sich mit aller Kraft darum, irgendwie doch noch so weiterzumachen wie bisher. Als Senior Advisor oder als Mitglied von Aufsichtsräten, Kommissionen oder Stiftungen. Es gibt ja viele Möglichkeiten, seine Expertise, sein Wissen und seine Erfahrungen noch irgendwo einzubringen. Aber auch dieser langsame Abschied aus dem Berufsleben bleibt ein Abstieg.
Deshalb lohnt sich ein Blick auf die seltenen Beispiele des Gelingens. Auf jene Menschen also, die aus der Entbindung von ihren bisherigen Verpflichtungen tatsächlich den Weg in die Freiheit finden, die diese Transformation so bewältigen, dass sie in Verbundenheit weiter wachsen, über sich hinauswachsen können. Solche Menschen sind selten. Was sie auszeichnet, ist etwas, was sie meist schon vorher entwickelt hatten, was sich aber jetzt erst zu voller Blüte entfaltet: Authentizität, Souveränität und Spiritualität. Ihr Geheimnis ist ihre besondere Haltung: Offenheit, Verlässlichkeit, Vertrauen, Dankbarkeit, Bescheidenheit, Achtsamkeit, Zugewandtheit und über allem: Liebe. Diesen durch Erfahrung gereiften Menschen ist das Wohlergehen anderer Menschen wichtiger als ihr eigenes. Das ist der Unterschied.
Wir könnten unter dem, worauf es im Leben ankommt, etwas anderes verstehen
Wir beginnen unser Leben mit der Erfahrung des allumfassenden Einsseins. Und wir können den Zustand des Getrenntwerdens später nur deshalb empfinden, weil wir den Zustand dieses Einssein am Anfang unseres Lebens bereits kennengelernt haben. Nur weil ein Mensch »weiß«, wie es sein kann, ist er imstande zu bemerken, dass es irgendwann einmal nicht mehr so ist, wie es mal war, nämlich eins zu sein mit sich selbst und der Welt. Diese Grunderfahrung des Einsseins wird also zunächst im eigenen Körper und, wenn es sich so weit entwickelt hat, auch im Gehirn verankert. Später wird sie bei jeder Erfahrung des Getrenntwerdens zwangsläufig als innere Referenz, wie es sein müsste, mit
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