Was wir sind und was wir sein könnten
dem Verhalten der Eltern, wie die Welt wahrgenommen und eingeschätzt werden muss und wie man ihr begegnet. Dieses »Imitationslernen« bildet die Grundlage für die Weitergabe von Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Verhaltensmustern von einer Generation zur nächsten.
Durch solche Spiegelungen des Verhaltens von Vorbildern, meist noch verstärkt durch entsprechende Hinweise und Maßregelungen, lernen Kinder sehr schnell und außerordentlich effizient, wie sie sich verhalten müssen, um in die Gemeinschaft zu passen, in die sie hineinwachsen. Am deutlichsten treten solche durch Spiegelung und Imitation erlernten Verhaltensweisen immer dann zutage, wenn man Gelegenheit bekommt, ein Kind in Gegenwart eines besonders prägenden Vorbildes zu beobachten. Besonders bei kleinen Kindern wird dann sichtbar, wie sehr sie sich bemühen, die Körperhaltung, die Mimik und Gestik des bewunderten Vorbildes nachzuahmen. Das kann der Vater oder die Mutter sein, häufig aber auch etwas ältere Geschwister oder Spielkameraden und nicht selten auch irgendein »Idol« aus dem Kino oder Fernsehen. Weniger deutlich sichtbar, aber aus den verbalen Äußerungen und Kommentaren zumindest anfänglich noch erkennbar, eignen sich Kinder auch bestimmte geistige Haltungen und Vorstellungen dieser Vorbilder an. Dabei werden diese Ideen im Lauf ihrer weiteren Entwicklung im eigenen Denken immer wieder »durchgespielt« und so oft wiederholt, bis die dabei aktivierten neuronalen Erregungsmuster so gebahnt und stabilisiert worden sind, dass sie dem Heranwachsenden auch weiterhin als strukturell verankerte Korrelate, als internalisierte Vorstellungen zur Verfügung stehen, um daraus Orientierungen und geistige Grundhaltungen abzuleiten und subjektive Bewertungen neuer Eindrücke und Erfahrungen vorzunehmen.
Schon im Kleinkindalter lässt sich beobachten, dass Kinder auch all jene Strategien ihrer Vorbilder übernehmen, die diese zur Regulation ihrer eigenen emotionalen Befindlichkeit einsetzen. Dazu zählen sowohl das »Verstecken« von Gefühlen, wie auch das übertriebene Zurschaustellen von emotionalen Gesten und mimischen Ausdrucksformen. Anhand dieser Vorbilder lernt das Kind nun zunehmend besser, seine Gefühle zu beherrschen oder zum Erreichen bestimmter Ziele bestimmte emotionale Ausdrucksformen einzusetzen. Die ursprüngliche Offenheit des kindlichen emotionalen Ausdrucks wird nun immer stärker in eine private Gefühlswelt internalisiert. Vor allem in den westlichen Kulturen führt das zu einer zunehmenden Entkopplung der durch Mimik und Gestik zum Ausdruck gebrachten und der tatsächlich subjektiv empfundenen Gefühle. Die eigenen Gefühle werden so immer stärker kontrolliert und vom Körperempfinden abgetrennt.
Die Anpassungsfalle
Bisher haben wir uns ja nur mit der Frage befasst, wie jede und jeder Einzelne von uns so werden konnte, wie sie oder er bis heute geworden ist. Dabei haben wir festgestellt, dass sich jeder Mensch im Lauf seiner Entwicklung an die Erfordernisse der sozialen Gemeinschaft anpasst, in die er hineinwächst.
Dabei übernimmt er die jeweiligen Fähigkeiten und Fertigkeiten, das Wissen, die Erfahrungen, die Überzeugungen und Vorstellungen, die Haltungen und die Verhaltensweisen, die Traditionen und die Visionen all jener Menschen, die ihm als Mitglieder dieser Gemeinschaften besonders wichtig sind, zu denen er sich hingezogen, mit denen er sich verbunden fühlt.
Es ist gleichgültig, ob diese individuellen Anpassungsleistungen freiwillig und mit Begeisterung vollbracht oder ob sie gezwungenermaßen vollzogen werden. In beiden Fällen kommt es durch derartige Anpassungsprozesse lediglich zu einer Stabilisierung, Fortschreibung, Verbesserung des in der betreffenden Gemeinschaft bereits Erreichten. Durch ihre Anpassungsleistungen können die Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaften ja lediglich dazu beitragen, dass all das, was in dieser Gemeinschaft bisher schon entwickelt worden ist, nun noch besser, noch effizienter funktioniert. Das, was das Leben in solchen Gemeinschaften schon immer bestimmt hatte, wird so bestenfalls innerhalb einzelner Subgruppen weiter modifiziert und noch weiter vorangetrieben. Aber etwas Neues kommt so nicht in die Welt. Anpassung ist eine konservative Strategie. Die Mitglieder einer Gemeinschaft können über viele Generationen hinweg nur noch mit Anpassung beschäftigt sein. Passiv, ohne zu erkennen und sich bewusst zu werden, was mit ihnen geschieht, werden sie so, wie sie schon immer
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