Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
erzählt: Geschichten verändern sich im Laufe unseres Lebens. Das tut aber nichts zur Sache: Die Geschichte ist psychologisch für ihn wahr und er hat sich mit dieser Situation noch nicht versöhnt. Dieses Mal hat er jemanden gefunden, der wirklich zuhören kann. Und das ist wohl auch der Grund, dass er viel ausführlicher von seinen Ängsten spricht, vor allem aber auch von der Demütigung. Und es könnte ja sein, dass das empathische Zuhören der Frau etwas an seiner Selbstwahrnehmung verändert hat: Vielleicht kann er akzeptieren, dass er ängstlich ist und diese Ängstlichkeit auch ihren Sinn haben kann: Er als der einzige mit Verantwortungsgefühl. Wäre dem so, dann könnte der Makel, zu ängstlich zu sein für einen Mann, etwas umformuliert werden und dadurch akzeptabler sein: Das Selbstkonzept könnte sich verändern, er könnte sich mit dieser Seite versöhnen.
Durch das empathische Zuhören wurde die Geschichte emotionaler erzählt als üblicherweise, dadurch wurden seine Emotionen verändert, er kann sich mit sich in dieser Situation versöhnen. Im Erzählen von Geschichten können Emotionen verändert werden: Das wissen wir aus der Therapie. Das geschieht aber auch außerhalb von Therapien. Das wurde und wird in der Narrationsforschung bestätigt.
Zwei Muster des Erzählens
Tomkins 20 fand durch die Analyse von vielen Erzählungen zwei grundlegende Muster: Er unterscheidet zwischen Erlösungs- und Kontaminationsgeschichten.
Erlösungsgeschichten : Eine schwierige Lebenssituation wird beschrieben: der Verlust eines geliebten Menschen, der Erzähler, die Erzählerin leidet und erzählt von seinem/ihrem Leiden. Dann wird mit der Zeit die Situation verbessert oder »erlöst« (redemption) und positive Emotionen werden beschrieben. (»Es war eine ganz wichtige Erfahrung. Dass ich heute das Leben so genießen kann, verdanke ich dieser Erfahrung. Der Verlust hat mir gezeigt, dass es nicht selbstverständlich ist …«) Viele negative Emotionen werden formuliert, aber auch die Erfahrung, dass es auch gut war, verbunden mit Hoffnung auf Besserung.
Der Ausdruck »Redemption« verweist auf Wiedergutmachen, auf Versöhnung, auf Befreiung, Erlösung.
Im Unterschied zu diesen Erlösungsgeschichten gibt es Kontaminationsgeschichten (contamination stories). Bei diesen Geschichten wird auch etwas, das eigentlich gut war, schlecht gemacht, ruiniert, verdorben – ohne dass etwas Gutes daraus entstehen kann. Schlechtes legt sich über alles Gute: Der Ausdruck legt nahe, dass es um eine Verunreinigung, eine Verseuchung geht. Man kennt das von verbitterten Menschen: Sie beklagen sich nicht nur über Kränkungen und Erfahrungen, die durchaus bitter sind, sondern diese Bitterkeit legt sich über das ganze Leben. Eine resignative, entwertende, ablehnende, zynische Haltung dem Leben, den Mitmenschen und sich selber gegenüber bewirkt, dass nichts und niemand mehr in einem guten Licht erscheint. Das zeigt sich auch in den Geschichten, die sie erzählen: Es sind Geschichten, die zeigen, dass sie fortlaufend in Lebensbereichen, die ihnen besonders wichtig sind, gekränkt werden.
Ein Mann erzählt: » Ich wurde in meinem Beruf immer übergangen. Ständig hatte ich einen anderen vor der Nase, der sich besser einschmeicheln konnte – und dann wurde ich auch noch frühpensioniert. Früher habe ich ja ganz gerne Sport getrieben, aber das gefällt mir auch nicht mehr. Überall gibt es jetzt so viele Menschen und die denken sich wohl: Was will der alte Sack hier noch. Und meine Beziehung – die war früher in Ordnung – aber jetzt haben wir viele Probleme, meine Frau mag mich gar nicht mehr …«
Menschen, die dazu neigen, ihre Geschichten im Stile der Kontamination zu erzählen, benötigen in der Regel eine länger dauernde Psychotherapie. »Erlösungsgeschichten« kommen allerdings viel öfter vor als »Kontaminationsgeschichten.«
Erinnern
Gedächtnis und Erinnern haben einen inneren Zusammenhang. Unter dem Gedächtnis versteht man die Speicherung erworbener Informationen, die durch die Erinnerung wieder zugänglich werden. Im Zusammenhang mit dem Lebensrückblick interessiert vor allem das autobiografische Gedächtnis, das Gedächtnis, das auf die eigene Person und das eigene Leben bezogen ist. Erinnern wir autobiografisch wichtige Episoden, treten wir eine Zeitreise in die eigene Vergangenheit an. Diese Episoden haben zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort stattgefunden. 24
Der Gedächtnisforscher Daniel
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