Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
blockieren können, und damit auch die Biografiearbeit. In einer solchen Situation kann eine »Lebensrückblickstherapie« helfen, diese Probleme aufzuarbeiten. Wie eine solche Therapie als Kurztherapie aussehen könnte, wird am Ende dieses Buches aufgezeigt werden.
Vorauszuschicken ist: Jede Form der Psychotherapie, die sich mit der Bedeutung der Kindheit und des gelebten Lebens für das aktuelle Leben befasst, enthält immer wieder einen Lebensrückblick, schaut auf emotional bedeutsame Situationen im eigenen Leben zurück. Bei einer Lebensrückblickstherapie ist nicht die Vollständigkeit des Rückblicks beabsichtigt, sondern die Rückschau auf diejenigen Erfahrungen, die Knotenpunkte der Entwicklung bezeichnen, Situationen, die in der Rückschau als entscheidend für Wege, die eingeschlagen worden sind, für die eingegangenen Beziehungen betrachtet werden: Situationen, in denen das Leben sich verdichtet hat. Erst in der Rückschau entdeckt man, dass jener Lebensübergang, jene Krise in sich ein ungeheueres Entwicklungspotential enthielt – deren Konsequenzen man erst viel später entdeckte. Solche Verdichtungspunkte des Lebens zu sehen löst Freude aus, ein Staunen, dass es so etwas gegeben hat und dass es im Nachhinein auch gesehen werden kann: als eine Aufbruchssituation mit den damit verbundenen Emotionen, die damals durchaus beängstigend sein konnten. Oder aber man begibt sich zurück zu einer Wegkreuzung des Lebens, bei der man jetzt im Nachhinein den Eindruck hat, eine schlechte Wahl getroffen zu haben: wo etwas zu einem Stillstand gekommen zu sein scheint, man sich immer noch wegen jener »falschen Entscheidung« grämt, sie sich weiter übel nimmt und daher das aktuell gelebte Leben immer etwas verdunkelt erlebt.
In der Lebensrückblickstherapie, die ich ausgesprochen als eine Therapieform für ältere Menschen sehe, wird fokussiert erinnert, und diese Erinnerungen werden aber auch in Erinnerungen über das ganze Leben eingewoben.
Auch wenn es viele Formen gibt, wie Menschen ihr Leben spontan erinnern, möchte ich im ersten Teil dieses Buches Anregungen geben, wie so ein Rückblick stimuliert werden kann. Mir geht es dabei nicht um die Erstellung eines chronologisch korrekten Lebenslaufes, sondern um das Sammeln von bedeutsamen Erfahrungen, Erfahrungen, die uns auch mehr in Kontakt mit uns selbst bringen, aber auch in Kontakt mit Liegengebliebenem, mit Versäumtem, mit Verlorenem, vielleicht auch mit nur scheinbar Verlorenem, mit Erfahrungen, die wir damals zu wenig wertgeschätzt haben. Es geht mir um den Kontakt mit emotional bedeutsamen Lebenssituationen. Denn in der Auseinandersetzung mit diesen ist eine größere Lebenszufriedenheit erreichbar. Das gelebte Leben ist dann auch in der Rückschau nicht gleichgültig, sondern es hat eine Wert, eine Bedeutung und einen Sinn.
Erzählen Sie!
In einer ganz natürlichen Weise betreiben wir einen Lebensrückblick, wenn wir einander etwas aus unserem Leben erzählen. Treffen wir Menschen, die wir lange nicht mehr gesehen haben, etwa bei einem Klassentreffen, dann hebt ein Erzählen an: »Weißt du noch?« Und dann kommen entweder die Erinnerungen zurück oder sie kommen partout nicht zurück. Wir erzählen dann einander, was wir eigentlich längst wissen, jetzt aber aus der Perspektive von heute. Manchmal verstehen wir dadurch etwas aus unserem Leben besser, manchmal wundern wir uns über uns selbst, ärgern uns nachträglich oder wir freuen uns. In unseren Erzählungen erzählen wir einander unser Leben, unser Gewordensein, und manchmal bringen uns altbekannte Menschen einen Teil unserer Biografie in die Erinnerung zurück, den wir bereits vergessen haben.
Aber auch ohne das Treffen mit alten Freunden und Freundinnen – unser Leben ist voll von Situationen, die Erinnerungen abrufen. Wir hören eine Geschichte, lesen einen Text, sehen einen Film: immer fällt uns dazu etwas aus unserem Leben ein. Und wenn wir mit Menschen zusammen sind, die bereit sind, einander zuzuhören, dann erzählen wir. Im Erzählen wird die Vergangenheit vor dem inneren Auge präsent – oder wir beschreiben eine Fantasie, die in die Zukunft weist. Indem wir auf eine frühere Zeit rekurrieren, erzählen wir, wie ganz anders wir das heute sehen, und wie ganz anders das auch die Zukunft beeinflussen wird. Da wird einem älteren Mann gespiegelt, wie er als Maturand so furchtbar gestresst war, weil er unbedingt die besten Noten haben wollte, ohne dies allerdings zu schaffen.
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