Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben: Die Kraft des Lebensrückblicks (German Edition)
dass sie diese Kleider beim anschließenden Fest nicht ausziehen wollten … Der Lehrer hatte sowohl den Text als auch die Liste der Schauspieler dabei – großes Gelächter entstand. Mit Hilfe des Textes wurde versucht, die Erinnerungen zu rekonstruieren und sie zu verifizieren: mit nicht allzu viel Erfolg.«
Es wird deutlich, das Gedächtnis hat eine kreativ konstruktive Funktion – wir erinnern, was uns jetzt wichtig ist, wir erzählen eine Geschichte, die zu unserem aktuellen Selbstbild passt.
Erinnerungen sind nicht statisch, sie sind in stetiger Wandlung begriffen, einige mehr als andere. Je nachdem, in welcher Situation wir sie abrufen, oder sie uns einfallen, verändern sie sich etwas. Wäre diese Erinnerung an das Theaterspiel in einer anderen Situation aufgetaucht, etwa in einer Situation, in der sich zwei Männer über ihre Ehescheidung von den »Mädchen« unterhalten, die damals mitgespielt hatten, es wären bestimmt andere Erinnerungen aufgetaucht.
Aufgetaucht, eingefallen – oder eben auch nicht. Woher aufgetaucht, woher eingefallen, warum entfallen? Wir erfahren, wir erinnern, wir vergessen – vieles ist uns unbewusst und darf auch unbewusst sein und bleiben, anderes haben wir verdrängt und es stört uns, müsste noch einmal bewusst werden, müsste noch einmal angesehen werden können.
Erinnerungen sind abhängig von den Situationen, in denen wir erinnern, aber auch von der Stimmung, in der wir sind. Sind wir in einer freudigen Stimmung, dann fallen uns eher freudige Erinnerungen ein. Sind wir verbittert, grantig, dann fallen uns Erfahrungen ein, die uns in dieser schlechten Laune bestärken. Sind wir etwa ärgerlich, so fallen uns immer noch mehr Erfahrungen ein, die uns geärgert haben, und alles, was vielleicht doch noch gut wäre in dieser Welt, in diesem Leben, wird dann vom Ärger überspült und eingedunkelt. Die Emotion, die Stimmung, in der wir uns befinden, lässt uns Geschichten auswählen, die wir erinnern und erzählen, oder aber färben die Geschichten, die wir eh schon immer erzählen, ein. Sind wir depressiv gestimmt, erzählen wir vielleicht eine andere Geschichte als wenn wir uns inspiriert fühlen, oder aber wir erzählen diese sonst inspirierte und auch inspirierende Geschichte mit einem melancholischen Unterton.
Das heißt aber auch, dass wir die gleichen Geschichten etwas anders erzählen können, wenn wir mit Menschen zusammen sind, denen wir die Geschichte noch nie erzählt haben, oder wenn wir in einer anderen Stimmung sind. Das ist einer der wesentlichen Gründe, warum Psychotherapie etwas verändern kann. Psychotherapie verändert nicht die Fakten, aber den Blick, den wir auf diese Fakten werfen, und damit verändert sich auch die emotionale Bedeutung. Unter dem wohlwollend interessierten Blick des Therapeuten oder der Therapeutin gelingt es auch uns selber, uns und unser Leben wohlwollender zu betrachten. Und das kann dazu führen, dass wir auch anderen Menschen gegenüber wohlwollender sind – und das verändert schon sehr viel in einem Leben.
Verschiedene Erinnerungen können auch miteinander verschmelzen. Manchmal wissen wir nicht mehr, ob wir von einer eigenen Erfahrung sprechen oder von etwas, das wir gelesen, oder in einem Film gesehen haben. So können Geschichten, die die Eltern erzählt haben, Fotos, Filme zum Thema, Wahrnehmungen dazu von Freunden und eigenes Wahrnehmen zu einer Erinnerung verschmelzen, die wir für die unsere halten. Besonders Filme scheinen einen großen Einfluss auf unsere Erinnerungen zu haben. Das erstaunt wenig, denn in der Literatur und in Filmen sind immer wieder grundlegende Lebensthemen, wie Liebe, Trennung, Kampf, Sieg, Niederlage, Verlust, Neuwerdung, Alter, Tod beschrieben und bedacht worden. Indem wir in Kontakt treten zu solchen kulturellen Erzeugnissen, die unser Interesse zu fesseln vermögen, wird unsere eigene Imagination, unsere Vorstellungskraft, aktiviert. Unwillkürlich fragen wir uns: Wie ist das bei mir? Wie war das bei mir? Oder: Wie könnte es auch sein? Wir verstehen die Lebensthemen, die bei uns anstehen, in Resonanz zu dem, wie Menschen »immer schon« mit diesen Themen umgegangen sind.
Harald Welzer, der sich intensiv mit autobiografischen Erinnerungen auseinander setzt, hat Interviews mit ehemaligen Kriegsteilnehmern geführt und festgestellt, dass einige ihrer Erzählungen eine Kombination sind von eigenen Erlebnissen mit Szenen aus bekannten Kriegsfilmen. Anders ausgedrückt: diesen Szenen
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