Weg mit den Pillen
Wenn nun jedes der 60 Bilder, die pro Sekunde auf dem Bildschirm erscheinen, komplett neu kodiert werden müsste, dann nähme das eine Menge Speicherplatz ein. Was macht der findige Programmierer und Ingenieur? Er kodiert das Bild einmal und dann immer nur noch das, was sich verändert. Das spart Platz und geht viel schneller. Wo hat er die Idee her? Aus seinem eigenen Kopf. Denn so ähnlich funktioniert unser Gehirn. Wir rufen ständig aus dem Gedächtnis das ab, was wir vernünftigerweise erwarten können, und bauen uns so ein Bild der Welt auf – nicht die wahrgenommene, sondern die erinnerte und konstruierte. Wenn es Winter ist, erwarten wir kühle oder kalte Temperaturen. Das spart Zeit, denn wir müssen uns nicht jeden Tag erneut überlegen, welche Art von Kleidung heute wohl zu tragen sei.
Unser Gedächtnis hat also eine Durchschnittserwartung der Welt abgespeichert, die wir anzutreffen erwarten, und unsere Wahrnehmung gleicht diese Erwartung mit der Wirklichkeit ab. Wie bei vielen unserer technischen Systeme wird nur das, was mit dieser Erwartung nicht übereinstimmt, registriert und verarbeitet. Das ist zeit- und energiesparend und kann im entscheidenden Moment von Vorteil sein.
Stellen Sie sich vor, Sie sind der Wächter einer Gruppe von Urmenschen, die am Rande des Waldes im Gras sitzen und Nüsse knacken, die gerade hier unter einem Baum liegen. Sie müssen aufpassen, dass die Gruppe ungestört bleibt. Dafür kriegen Sie dann auch ein paar Nüsse ab. Vor Ihnen liegt eine weite Savannenlandschaft mit hohem Gras. Der Wind zeichnet eine sachte Wellenbewegung über das Gras. Diese ist von einer bestimmten Regelmäßigkeit. Wenn Sie nun auf einen anschleichenden Räuber – sagen wir einen Löwen – achten müssen, was ist die effektivste Art der Wahrnehmung ? Ihr Gehirn wird natürlich nicht jeden einzelnen Grashalm, jede Position der Gräser in der Wellenbewegung des Windes immer von Neuem fotografisch verorten. Das würde viel zu lange dauern. Vielmehr wird aus der Wahrnehmung eine Gesamtsituation konstruiert und im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert. Diese Gesamtsituation wird immer wieder jeweils neu mit der aktuellen Wahrnehmung abgeglichen. Wenn nun die erwartete Regelmäßigkeit der Bewegung irgendwo unterbrochen wird (eben weil der Löwe durchs Gras schleicht und dadurch die Gräser plötzlich anders schwingen), dann werden Sie nur diese Unregelmäßigkeit sehen. Und gleichzeitig mit dieser Unregelmäßigkeit »sehen« Sie den Räuber. Ihr ganzer Organismus nimmt ihn wahr, Sie stürmen auf und schreien, sodass Ihre Gruppe sich über die sicheren Baumkronen in den Wald flüchten kann.
Wir können solche Reaktionen in Ansätzen auch bei uns selbst noch beobachten: Wir gehen zum Beispiel in der Dämmerung durch den Park und erschrecken, weil wir plötzlich eine Gestalt vor uns zu sehen meinen. Das Erschrecken funktioniert automatisch, noch bevor wir überhaupt gesehen haben, dass hier gar keine Gestalt steht, sondern einfach ein alter Baum oder ein Klettergerüst auf dem Spielplatz. Das ist deswegen so, weil wir niemals alles präzise wahrnehmen können, bevor wir reagieren müssen. Unsere Wahrnehmung analysiert die Umgebung durch bestimmte Filter, die unsere Aufmerksamkeit vorgibt, und spricht auf bestimmte Schlüsselreize an, denen zufolge dann unsere Umwelt konstruiert wird. In dem konkreten Beispiel tragen die Dämmerung, die
Einsamkeit des Parks, vielleicht auch eine Zeitungsmeldung über Überfälle dazu bei, dass wir das Aufmerksamkeitsmuster »Achtung auf Gefahr« aktivieren. Und schon »sehen« wir eine Gestalt, wo keine ist. Wäre allerdings wirklich eine Gestalt dagewesen, hätte eine solche Vorgehensweise selbstverständlich große Vorteile. Bis wir nämlich genau geguckt und uns überlegt hätten, ob Gestalt oder Baum, bis wir alles genau analysiert hätten, wäre der Räuber schon über uns gekommen. Also nehmen wir lieber ein paar Mal falschen Alarm auf uns; das ist weniger schlimm als ein einziges Versagen, welches uns im Ernstfall das Leben kosten könnte.
Unsere Aufmerksamkeit sagt unserer Wahrnehmung, worauf das Augenmerk zu richten ist. Im Beispiel mit dem Gorilla-Basketball-Video versetzt der Versuchsleiter die Versuchsteilnehmer mit der Ansage in eine Art kollektiver Hypnose. Er lenkt die Aufmerksamkeit der Gruppe und manipuliert damit das, was gesehen wird. Obwohl der Gorilla da ist, wird er übersehen. So etwas wie eine Ansage des Versuchsleiters findet auch kollektiv in
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