Weg mit den Pillen
unserer Gesellschaft statt, und zwar in allen möglichen Bereichen. Es funktioniert auch, vor allem im Bereich der Gesundheit. Die generelle Suggestion, wie wir Gesundheit und Krankheit zu betrachten haben, bestimmt, was wir tatsächlich sehen – und vor allem, was wir übersehen, obwohl es vor unseren Augen liegt. Was kollektiv die Funktion der Wahrnehmungssteuerung und Aufmerksamkeitslenkung übernimmt, ist das, was Wissenschaftler manchmal »Paradigma« nennen. Ich möchte hier den Begriff »implizite Voraussetzungen« verwenden, in Anlehnung an den britischen Philosophen Robin G. Collingwood (1889 – 1943), der ihn geprägt hat. 7
Wissen Sie, wie viel Prozent unserer Gehirnaktivität darauf gerichtet sind, Signale von außen zu verarbeiten? Schätzen Sie mal! Nein, nicht 30, nicht 20, nicht zehn auch nicht fünf Prozent, sondern ganze drei Prozent! Der Rest der neuronalen Aktivität des Gehirns dient dazu, jene Rekonstruktionsprozesse der Wirklichkeit vorzunehmen, von denen ich gesprochen habe. Neurowissenschaftler nennen das die »dunkle Energie des Gehirns«. 8 Unser sporadischer Kontakt zur Außenwelt überformt lediglich diese kontinuierliche
Aktivität zur Rekonstruktion von Wirklichkeit. Das erklärt auch, warum wir den Gorilla übersehen: Unser Gehirn ist gerade mit etwas anderem beschäftigt, nämlich mit dem Zählen der Ballpässe der weißen Mannschaft. Genauso wie im Einzelfall unsere Wahrnehmung gelenkt und begrenzt ist, genauso ist es auch im kollektiven Fall der Wissenschaft.
Diese Begrenzung unserer Wahrnehmung wird im kollektiven Fall durch die impliziten Voraussetzungen eines »Weltmodells«, eines Paradigmas vorgegeben. Dieses hat eine doppelte Funktion: Zum einen lenkt es unsere Aufmerksamkeit und sagt uns damit, wo wir hinschauen sollen und wo es sich lohnt zu suchen. Zum anderen blendet es das aus, was vermeintlich unwichtig ist. Das ist, wie fast alles, nützlich und hinderlich zugleich. Es ist nützlich, weil es Ressourcen spart, wenn man nicht überall, sondern nur an bestimmten Stellen nachsieht und wenn man nur nach dem forscht, was einen interessiert. Es ist hinderlich, weil es oft dazu führt, dass man den Gorilla nicht sieht, obwohl er mitten im Bild ist. Ich will das an einer historischen Episode verdeutlichen, die so unglaublich ist, dass ich sie selbst am Anfang nicht geglaubt habe, bis ich es schwarz auf weiß vor mir hatte. Die Episode handelt davon, wie der Herzschlag entdeckt wurde.
Harvey entdeckt den Herzschlag
Wir wissen es alle aus der Schule: Unser Herz pumpt Blut, denn es ist eine Pumpe (unter anderem, vielleicht ist es auch noch ein Beschleuniger und ein Immunorgan und anderes, was wir noch nicht wissen). Die Begleiterscheinung dieser Funktion ist, dass es rhythmisch schlägt. Dies hören wir als Herzschlag. Das war nicht immer bekannt. »Entdeckt« hat den Herzschlag der Leibarzt des damaligen englischen Königs, William Harvey (1578 – 1657), etwa um 1630 herum. Vorher war, zumindest in Europa, der Herzschlag als physiologische Funktion unbekannt. Harvey experimentierte, unappetitlich für heutige Gemüter, an lebendigen Tieren. Er schnitt Hunde und andere Tiere auf und sah ein pulsierendes, lebendiges Herz.
Daraus folgerte er: Das Herz ist eine Pumpe. Plötzlich machte ein Phänomen Sinn, das er vermutlich so wie andere Zeitgenossen schon öfter wahrgenommen hatte, nämlich dieses merkwürdig rhythmische Rumpeln in der Brust. Er folgerte: Das ist der Ton des Herzens, wenn es sich rhythmisch ausdehnt und zusammenzieht, um das Blut durch den Kreislauf zu pumpen. Plötzlich muss es wie Schuppen von seinen Augen gefallen sein. Er erkannte: Der Blutkreislauf ist die Konsequenz eines aktiv schlagenden Herzens, das das Blut durch die Gefäße befördert. Das Herz ist ein Pumporgan! Das klingt trivial für uns. Als er seine Entdeckung jedoch den europäischen Kollegen verkündete, ging ein Aufschrei durch Europa. Einer der damals führenden Köpfe in der Medizin und Philosophie, Emilio Parisano, ein Venezianer, spottete über Harvey und sagte allen Ernstes: »[…] dass ein Schlag sei in der Brust, den man hören kann, das können wir freilich weder wahrnehmen noch können wir uns vorstellen, dass es so sein könnte […] außer Harvey leiht uns vielleicht sein Hörrohr […]. Wie soll in der Brust ein Schlag sein, wie ein Ton? …« 9
Wie kann das sein? Dies ist ein im wahrsten Sinne des Wortes schlagendes Beispiel dafür, wie Paradigmen und implizite Voraussetzungen
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