Weg mit den Pillen
regelrecht verhindern, dass wir das wahrnehmen, was vor unseren Augen liegt. Warum? Zur Zeit, als Harvey sich Gedanken über den Blutkreislauf machte und experimentierte, galt noch immer im Wesentlichen die von Aristoteles aufgestellte Lehre, die von seinen Nachfolgern übernommen und verfeinert wurde. Nach ihr war das Herz ein Konvektionserwärmer für das Blut. Dieses steige auf, werde durch das Gehirn gekühlt und sinke dann wieder ab. Blutkreislauf erklärt. Kein Herzschlag nötig.
Wir sehen: Die herrschende Theorie macht theoretische Vorgaben. Dadurch wird die Aufmerksamkeit auf bestimmte Gegebenheiten gelenkt und nicht auf andere. Bestimmte Wahrnehmungsinhalte – hier der Herzschlag – werden nicht wahrgenommen, eben weil sie nicht ins herrschende Bild passen. Wir sollten vielleicht etwas präziser sein: Sie werden vielleicht wahrgenommen, aber der Wahrnehmung wird keine Bedeutung beigemessen. Darum kommt das
Phänomen als wissenschaftliche Tatsache nicht vor und wird nicht beachtet.
Wir sehen an diesem Beispiel auch: Zwischen dem Phänomen (also dem, was man wahrnehmen kann, was für uns in unserer Lebenswelt vorkommt) und einer wissenschaftlichen Tatsache (also dem, was die Wissenschaft in ihrem kollektiven Versuch, unsere Welt zu verstehen, als gegeben annimmt) besteht ein Unterschied. Denn erst wenn ein Phänomen nicht nur wahrnehmbar ist, sondern auch mit einer Theorie übereinstimmt, wird es zu einer wissenschaftlichen Tatsache. Eine Theorie, das müssen wir uns klarmachen, ist eine Abstraktion und eine Beschreibung der Welt aus einer bestimmten Perspektive heraus. Sie ist weder wahr noch falsch, sondern nützlich oder unbrauchbar. Wenn sie viele empirische Versuche überstanden hat, sie auf Herz und Nieren zu überprüfen, dann nennen wir sie »bewährt«. Aber es ist nie auszuschließen, dass irgendein kluger Kopf eine bessere Theorie bastelt, die alle von der bisherigen Theorie vorhergesagten Phänomene erklärt und noch ein paar andere dazu, die die alte Theorie nicht erklären konnte. In diesem Sinne ist etwa die Quantentheorie eine gute, bewährte Theorie, denn sie hat mehr als 300 harte Versuche überstanden, sie zu prüfen, und ist in allen Fällen bestätigt worden. Das heißt nicht, dass die Welt so ist, sondern dass diese Beschreibung für uns nützlich ist.
Wir sind leicht geneigt, die Wirklichkeit mit den wissenschaftlichen Tatsachen gleichzusetzen. Wir übersehen dabei, dass es für bestimmte Zwecke vielleicht nützlicher ist, einen anderen Blickwinkel einzunehmen. Wir übersehen oft, dass Paradigmen auch Grenzen auferlegen und uns Phänomene, die offensichtlich sind, übersehen lassen. Wir brauchen dann einen völlig neuen Blickwinkel, um offensichtliche Phänomene zur Kenntnis zu nehmen. Dieses Buch handelt von einem solchen grundsätzlichen Wechsel unseres Blickwinkels. Ich lade Sie ein, liebe Leserinnen und Leser, im Folgenden mit mir zu überlegen: Was wäre, wenn wir den Organismus nicht (nur) als Maschinerie betrachten, sondern vor allem als aktiven, selbstständigen Akteur, nicht als passiven Apparat, sondern
als handelnde, lebendige Einheit? Welche Folgen hätte das für uns, für unsere Vorstellung vom Organismus, für unser Bild von Gesundheit, für unser medizinisches Handeln und für unsere Art, wie wir das gesellschaftliche Gesundheitswesen organisieren? Genau um diesen radikalen Blickwechsel geht es mir.
Perspektivwechsel: Berlin liegt in der Schweiz, oder?
Bevor wir das tun, vielleicht noch eine kleine Überlegung. Was muss man tun, wenn man etwas ganz neu oder anders sehen will? Man muss einige Schritte zur Seite gehen und die Perspektive wechseln. Berlin liegt in der Schweiz, oder? Jedenfalls könnte es einem manchmal so vorkommen, wenn man vom Berliner Hauptbahnhof, genauer gesagt von der Spreebrücke, auf den Bundestag und den Reichstag blickt. Davor steht nämlich die Botschaft der Schweiz. Und wenn es dumm läuft und der Wind besonders trickreich ist und nur lokal oder auf einer bestimmten Höhe weht, dann passiert Folgendes: Die Fahnen, die den Reichstag zieren, hängen schlapp herunter und sind als Deutschlandfahnen nicht erkennbar. Aber das Schweizerkreuz weht stolz und weithin sichtbar – vor und anscheinend über dem Reichstag. Der Eindruck entsteht: Der Reichstag steht in der Schweiz. Das stimmt natürlich nicht. Wissen wir ja auch alle.
Aber angenommen, wir wüssten es nicht, weil wir Außerirdische wären, die gerade mit einer Liste aller Flaggen der
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