Wege im Sand
Geheimnisse? Er erinnerte sich an die schrecklichen Nächte im vergangenen Winter, als sie schreiend aufgewacht war und nach ihrer Mutter verlangt hatte. Sechs Monate Gesprächstherapie waren hilfreich gewesen – während der Sommerferien sollten die Sitzungen ausfallen, probehalber. Dr. Galford hatte seine Praxis in Boston, nur zwei Stunden entfernt. Nell litt noch immer unter Schlafstörungen, aber zumindest schrie sie nicht mehr im Traum, dass einem das Blut in den Adern gefror.
»Um noch einmal auf die Pflaster zurückzukommen, Nell. Was ist passiert?«
»Wie ich schon sagte, Dad. Ich bin hingefallen, und Stevie hat mich verarztet.«
Stevie. Jacks Augen verengten sich, er sah Nell streng an, aber sie erwiderte seinen Blick mit ihren unerbittlichen grünen Augen. »Würdest du mir bitte erklären, wie du sie gefunden hast?«
»Alle Kinder hier in der Gegend kennen sie. Sie umschwirren in Scharen ihr Haus.«
»Wie die Vögel, die sie malt!«, meinte Francesca.
»Wissen Sie, Sie kommen mir selbst noch wie ein Kind vor«, erwiderte Nell so wohlgelaunt, dass Francesca die Spitze entging, und strahlte.
Jack war erschöpft. Er hatte geplant, mit den beiden in ein Restaurant an der Küste essen zu gehen, doch im Augenblick wollte er sich nur noch hinlegen und nicht mehr nachdenken müssen. Seit Emmas Tod vor einem Jahr geriet er leicht aus dem Lot. Er wünschte, sie wäre jetzt hier, bei ihm. Er wünschte es sich so sehr, dass ihm eines klar wurde: Er war ihretwegen zu dem Strand zurückgekehrt, an dem sie sich kennen gelernt hatten. Doch wenn er an Nell dachte, die Emmas Freundin ausfindig gemacht hatte und noch von dieser Begegnung strahlte, wusste er, dass seine Entscheidung ein großer Fehler gewesen war.
»Belästige sie nie wieder!«, sagte Jack. »Das ist ein Befehl.«
»In Ordnung«, versprach Nell.
»Such dir eigene Freunde. Gleichaltrige, mit denen du am Strand spielen kannst.«
Nell kicherte.
»Was ist daran so komisch?«
»Nichts. Außer dass mich das Wort ›Gleichaltrige‹ an etwas erinnert, was sie gesagt hat. Als sie dich erwähnte.«
»Und, was hat sie gesagt?«
»Dass du uralt warst!« Nell lachte, aber der Blick, den sie Francesca zuwarf, war nüchtern und sachlich. Als sie ihren Vater wieder ansah, waren ihre Augen weit geöffnet, abwartend, ohne jeden Anflug von Spott. Jack versuchte, ihre Hand zu ergreifen, doch sie lief aus dem Zimmer, die Treppe hinauf. Francesca kam zu ihm, um ihn zu umarmen, flüsterte ihm etwas ins Ohr, doch er spürte und hörte sie nicht.
3. Kapitel
I n Stevies nächstem Buch mit dem vorläufigen Titel Roter Nektar ging es um Kolibris und ihre Vorliebe für rote Blüten. Obwohl sie unter Termindruck stand, legte sie die Arbeit an diesem Abend beiseite und begann mit einer Reihe Aquarellskizzen von einem kleinen braunen Zaunkönig.
Tilly sah ihr mit abgrundtiefer Missbilligung zu. Sie schien irgendwie zu spüren – Stevie hatte schon seit langem den Versuch aufgegeben, die rätselhafte Beziehung zu ihrer vierbeinigen Gefährtin ergründen zu wollen, den Schleier des Geheimnisses zwischen Menschen und Katzen zu lüften –, dass ihre Herrin ihre beruflichen Pflichten wegen einer Inspiration vernachlässigte, die ihr höchstwahrscheinlich kein Geld einbringen würde, dafür aber ein gewisses Maß an Verdruss.
Im Allgemeinen zog Stevie es vor, realistisch zu malen – oder sich zumindest an der Wirklichkeit zu orientieren. Jedes ihrer Bücher wurzelte in Geschichten aus dem richtigen Leben, über Vögel, die, wenn auch nur für kurze Zeit, mit ihrer Welt in Berührung gekommen waren. Es machte ihr Spaß, die Staffelei hinter der Hecke im Garten aufzustellen und Vögel zu malen, die in dem Futterhäuschen landeten, in ihrem Garten pickten, auf ihrem Dach thronten. Doch inzwischen war es dunkel, die Zaunkönige schliefen – und abgesehen davon war dieser spezielle Zaunkönig nicht wirklich ein Zaunkönig.
Tilly grollte. Als Stevie zu ihr hinüber sah, entblößte die alte Katze ihre Zähne – von denen die vorderen vier fehlten. »Till – lass mich zu Ende malen, ja? Dann gehe ich mit dir auf Mäusejagd.«
Der Aquarellblock und die Farben, die sie benutzte, stammten von Sennelier, ihrem Lieblingsladen für Künstlerbedarf am Quai Voltaire in Paris. Eine zartgrüne Lasur, feine Pinselstriche, die obsidianfarbene Blätter andeuteten – die Schattierung reichte so nahe wie möglich an Nells Augen heran. Der Vogel, nussbraun, das Gefieder glatt wie
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