Wege im Sand
die hilflose Liebe, die ein Mann für das gestörte Mädchen empfand, das er in die Welt gesetzt hatte …
Als Dr. Mars fortfuhr, sank Stevie tiefer in den Sitz. »Der Pinguin-Vater übernimmt zweiundsiebzig Tage lang die Brutpflege, steht aufrecht da, trotzt der grausamen Witterung. Die Stürme sind mörderisch, der Wind erreicht nicht selten eine Geschwindigkeit von hundertfünfzig Kilometern in der Stunde, treibt Schnee und Eisschollen vor sich her. Das Männchen nimmt während dieser Zeit keine Nahrung zu sich, während er das Junge mit einer Flüssigkeit von milchähnlicher Konsistenz füttert, die von einer Drüse in seiner Speiseröhre erzeugt wird.«
Als Stevie an die Opfer dachte, die ihr Vater gebracht hatte, um sie großzuziehen, hatte sie aufgehört, sich Notizen zu machen, und nur noch die Dias betrachtet. Der Professor fuhr fort: »Nach zwei Monaten haben die Weibchen genug gefischt und kehren zurück. Sie finden ihren Partner und ihr Junges unter Hunderten wieder, erkennen sich gegenseitig am Ruf. Sie müssen wissen, es gibt keine zwei Vögel, deren Rufe völlig identisch sind. Und sobald ein Paar zusammengekommen ist, hat sich der Ruf des Partners unauslöschlich eingeprägt, in ihrem …«
»Herzen«, hörte sich Stevie laut sagen.
»Ich wollte eigentlich ›Gedächtnis‹ sagen«, meinte Linus Mars.
Die Wissenschaftler lachten.
»Aber natürlich ist dieser Bereich nicht so klar umrissen. Die Welt ist harsch für Tiere aller Art, und für uns – den Menschen, Homo sapiens – scheint es nur natürlich, sich außer der biologischen auch eine emotionale Bindung vorzustellen. Vor allem wenn das Pinguinweibchen, was oft der Fall ist, nicht aus dem Meer zurückkehrt. So heldenhaft die Brutpflege des Männchens während dieser zweiundsiebzig Tage auch erscheinen mag, es sieht sich nicht dem gleichen Überlebenskampf im Meer am Südpol oder den gleichen Räubern gegenüber, die auf Beute lauern. Manchmal kehrt ein Weibchen nicht zurück.« Stevies Augen füllten sich mit Tränen.
»Deshalb beuge ich mich dem Urteil der Dame in der ersten Reihe. ›Herz‹ ist ebenfalls richtig. Aus dieser Perspektive gleicht der Körper jedes Lebewesens einer Landkarte, auf der seine gesamten Erfahrungen verzeichnet sind, und deshalb hat sich der Ruf von Aptenodytes foresteri auch im Herzen des Pinguinpartners eingeprägt. Und wenn dieser Ruf unbeantwortet bleibt, führt das zu einer Katastrophe, die wir uns als Menschen nur allzu gut vorstellen können.« Er verstummte, blickte zu ihr hinab.
Als die Vorlesung zu Ende war, kam der Professor zu Stevie herüber. Obwohl sie ihre Tränen inzwischen getrocknet hatte, reichte er ihr ein perfekt gestärktes, zusammengefaltetes Leinentaschentuch – wie diejenigen, die ihr Vater zu benutzen pflegte.
»Alles in Ordnung. Aber trotzdem, danke.«
»Die Vorlesung scheint Ihnen sehr nahe gegangen zu sein.«
»Ich schreibe ein Kinderbuch über den Kaiserpinguin, und Sie haben mir hervorragendes Informationsmaterial geliefert.«
»Ich hatte den Eindruck, dass Ihnen die Liebesgeschichte sehr nahe gegangen ist.«
»Die Liebesgeschichte?«
Der Professor war sehr groß. Sein Tweedjackett war aus einem steifen, stacheligen Garn von der Farbe eines Brombeergestrüpps, das Stevie an Ausflüge nach Sligo, Galway und den Aran Islands erinnerte, die sie mit ihrem Vater unternommen hatte. Er hatte haselnussbraune Augen mit weichen braunen Wimpern. Eine Brille mit Goldrand drohte aus seiner Brusttasche zu fallen; sie schob sie behutsam wieder hinein.
»Die Liebe des Vaters zu seiner Partnerin. Und zum gemeinsamen Sprössling.«
»Ich dachte, Wissenschaftler sind der Ansicht, dass Vögel keine Liebesgeschichten haben«, sagte sie.
»Richtig. Haben sie auch nicht. Aber vielleicht sind Sie anderer Meinung.«
»Bin ich.«
»Dieses Eingeständnis in der Bastion der Biologie ehrt Sie – was Sie da sagen, ist ein Sakrileg für einen Ornithologen wie mich.«
»Tut mit Leid. Künstler denken nicht immer in linearen Bahnen.«
Ein besorgter Ausdruck huschte über sein Gesicht. Er dauerte ganze zehn Sekunden an, dann blickte er zur Decke empor und atmete mit großem Bedauern aus. Sie fragte sich, ob er nicht schon zu lange in vorgegebenen Bahnen gedacht hatte.
»Ich wünschte, ich könnte umlernen – was bestimmte Gewohnheiten betrifft. Eine starre, lineare Denkweise ist eine Falle, in die viele von uns tappen …«
»Eine gerade Denkweise muss nicht immer verwerflich sein«,
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