Wege im Sand
emotionalen, wundersamen, ungewöhnlich warmherzigen Meeresvogel, der in einer bitterkalten Klimazone lebte.
Stevie war Dr. Linus Mars in Woods Hole begegnet, im Marine Biological Laboratory, wo er eine wissenschaftliche Abhandlung über Aptenodytes foresteri – Kaiserpinguine – vorstellte. Sie hielt sich in dem Institut für Meeresbiologie auf, weil sie Hintergrundmaterial für ihr nächstes Buch sammelte, Der Gute Vater, das diese Vögel zum Thema hatte.
Die Vorlesung, die Linus über die größte Pinguinart hielt, war hinreißend. Unfähig zu fliegen, verbrachten die Tiere ihr ganzes Leben auf dem Packeis der Antarktis, gewärmt von einer dicken Speckschicht und annähernd 75 Federn auf sechseinhalb Quadratzentimetern, mehr als jeder andere Vogel vorweisen konnte.
»Sie bilden Kolonien, das heißt, sie drängen sich en masse zusammen«, sagte Linus, der vorne im abgedunkelten Hörsaal stand, während die Dias, die er während seiner letzten Expedition gemacht hatte, auf der Leinwand flimmerten. Das Licht von der Leinwand hinter ihm erhellte markante Gesichtszüge: ein honigbrauner Schopf, der eines Haarschnitts bedurfte, hohe Wangenknochen, eine lange gerade Nase, ein starkes Kinn. Stevie, die in der ersten Reihe saß, fand, dass er sehr englisch aussah, wie ein Universitätsprofessor aus Oxford.
Was er auch war.
»Sie führen eine Art Tanz auf, choreografiert von der Kälte. Ständig in Bewegung, umeinander kreisend, nehmen sie abwechselnd den Platz in der Mitte der Menge ein. Der Winter beginnt im März – wenn alle anderen Lebewesen den Kontinent verlassen haben –, aber Aptenodytes foresteri bleibt, um zu brüten.«
Stevie hatte auf ihrem Sitz in der klimatisierten Stille des kleinen Hörsaals gezittert und an das Liebesleben der Pinguine gedacht, an ihren Eistanz und das Paarungsritual. Dr. Mars hatte sie unverhohlen angesehen – nur sie, davon war sie bis heute überzeugt – und gesagt: »Die Phase der Werbung dauert bei ihnen nur ein paar Wochen, was auszureichen scheint.«
Konnte er erkennen, wie sie im Dunkeln errötete? Unmöglich, dachte Stevie, aber sie wandte den Blick nicht ab. Sie hielt einen Notizblock in der linken Hand und sah, dass er geradewegs auf ihren Ringfinger starrte. Sie war zu der Zeit verheiratet gewesen – wie sie zugeben musste, auch wenn es ihr schwer fiel – mit einem Mann, den sie an der Kunstakademie kennen gelernt hatte. Kevin Lassiter. Maler, Musiker, Hobbykoch, Alkoholiker. Dr. Mars hatte ihren Ehering betrachtet – von Kevin persönlich entworfen –, und Stevie dachte: Gut; dann weiß er, dass ich verheiratet bin, so dass kein Missverständnis aufkommt.
»Nach der Paarungszeit«, fuhr Dr. Mars mit seinem wunderbaren englischen Akzent fort, »legt das Weibchen ein Ei ab – ein einziges Ei. Und dann … verschwindet sie. Sie ist eine militante Feministin, um diesen volkstümlichen Ausdruck zu benutzen, und er, auch wenn ich meine Studenten normalerweise für Vergleiche mit Menschen rüge, ein emanzipierter Mann.
Während das Weibchen bis zu siebzig Kilometer zurücklegt, um das offene Meer auf der Suche nach Nahrung zu erreichen, bleibt er mit seinen männlichen Artgenossen zurück und übernimmt die Brutpflege. Auf seinen Füßen – die sich ständig in Bewegung befinden, da die Pinguine abwechselnd in der Mitte der Kolonie Position beziehen – balanciert er das Ei, geschützt unter seiner Bauchfalte, die als Brutbeutel dient. Ein emanzipierter Mann, keine Frage!«
Die Wissenschaftler lachten. Stevie kauerte sich auf ihrem Sitz zusammen. Seit sie ihren ehelichen Status klargestellt hatte – für den Doktor, aber noch wichtiger für sich selbst –, spürte sie, wie eine Welle von Gefühlen sie überkam. Dieser Teil der Vorlesung hatte sie bewogen, den Kaiserpinguin als nächstes Buchprojekt auszuwählen: wegen der innigen Liebe und Geborgenheit, die ein Vater seinem einzigen Kind angedeihen ließ.
Genau wie bei Stevie und ihrem Dad, Johnny Moore. Sie konnte den nächsten Teil kaum ertragen, als Dr. Mars mit seiner leisen kultivierten Stimme die Vorlesung fortsetzte und mit seinem starken, von Tweed umhüllten Arm auf die Dias deutete. Stevies Vater war ebenfalls Professor gewesen – am Trinity College in Hartford. In Irland geboren und aufgewachsen, liebte er die englische Sprache und lehrte irische Literatur. Er hatte sich mit einer Abhandlung über James Joyce und dessen schizophrener Tochter Lucia einen Namen gemacht. Über
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