Wege im Sand
eine Kastanie, die Augen aufmerksam und neugierig. Stevie kannte die Kritik, die sie ständig erntete – dass sie Vögel mit menschlichen Zügen ausstattete. War es ihre Schuld, dass sie die Welt so und nicht anders sah? Eine einzige große menschlich anmutende, hirnverbrannte Geschichte über Tiere und Menschen und ihre immer traurig endende Suche nach Liebe?
Sie zeichnete ein Zaunkönig-Junges im Nest, hoch droben im Wipfel eines Baumes. Das fliegen lernte. Auf einem Ast hockte. Breite deine Flügel aus … Du schaffst es … Die Vogelmutter blickte hinauf, ermutigte es.
Dann die nächste Sequenz: das Junge alleine, die Mutter fort. Eine Welle von Gefühlen übermannte sie, doch es gelang ihr, sie in sinnvolle Bahnen zulenken. »Ach Emma«, sagte sie. Und: Nell.
Stevie hielt inne, den Pinsel in der Hand, atemlos, als hätte sie selbst zu fliegen versucht. Der Marderhaarpinsel tropfte auf das Bild. Tränen, dachte sie. Es weint um die verlorene Mutter, das verwaiste Vogelkind.
Kinder, von Gott und der Welt verlassen – so fühlte es sich für diejenigen an, deren Mütter weggegangen oder jung gestorben waren; sie suchten ihr ganzes Leben lang nach Ersatz, nach der perfekten, innigen Bindung. Mit weniger konnten sie sich nicht zufrieden geben. Stevie dachte an den Kummer, den sie sich selbst und anderen mit dieser Suche bereitet hatte. Entmutigt hatte sie sich ausschließlich dem Schreiben und Malen gewidmet. Die Nähe, nach der sie sich sehnte, hatte sie gleichwohl zu den Beachgirls empfunden.
Wie hatte sie zulassen können, dass ihr diese Freundschaften entglitten? Fantastische Freundinnen, enge Vertraute. Stevie schloss die Augen, sah eine Momentaufnahme von Emma vor sich: braunes Haar mit koboldhaftem Schnitt, blauweiß gestreifter Badeanzug, Ohrringe; sie hielt sich vor Lachen die Seiten. Sie schaffte es mit einem einzigen Wort oder Blick, dass Stevie und Maddie in schallendes Gelächter ausbrachen.
Bis zu diesem Augenblick hatte Stevie nicht bemerkt, wie sehr sie ihre Freundinnen vermisste. Vielleicht hätten sie ihren Hang zur Selbstzerstörung verhindert, zu dem sie bei ihrer Suche nach Liebe neigte. Ihre Suche nach einer innigen Beziehung, nach Leidenschaft in allen Dingen, hatte sie hierher geführt: in dieses abgeschiedene Haus am Strand, wo sie ihre Zeit allein verbrachte. Sie hatte sich abgekapselt; sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal vor Nell Besuch gehabt hatte. Sie fragte sich, was aus Jack geworden sein mochte, hoffte, dass er ein guter Vater war.
Schade, dass Zaunkönige – und Menschen, nebenbei bemerkt – nicht vom Kaiserpinguin lernen konnten. Sie erinnerte sich an eine Reise – eine Forschungsexpedition – in die Antarktis, mit Linus Mars, ihrem Ehemann Nummer zwei. Sie dachte an das zarte Licht, an die Dunkelheit, die sich wie eine Decke ausbreitete, an die Nähe der Sterne – sie hatten tief, sehr tief am Himmel gestanden, wie Laternen, die nur darauf warteten, aufgehoben und getragen zu werden. Sie entsann sich der Felldecken, die sie zum Weinen gebracht hatten, weil das Leben in der Tundra für die Tiere hart genug war, auch ohne die Menschen, die sie um ihrer Felle willen abschlachteten.
Linus hatte sie in den Armen gehalten, belustigt. Er fand es seltsam, eine derart weichherzige Frau zu lieben, die den Tod eines Tieres mit solcher Inbrunst betrauerte, dass sie lieber fror, als sich in sein Fell zu hüllen. Schon damals – und sie waren nicht nur auf einer Forschungsexpedition gewesen, sondern außerdem in den Flitterwochen – hatte Stevie geahnt, dass die Ehe ein Fehler gewesen war. Die Leidenschaft, die sie für Linus empfand, war so stark wie ehedem, doch sie machte der allmählichen Erkenntnis Platz, dass eine Kluft zwischen ihnen bestand – eine Bruchstelle in ihrer Beziehung, in ihrem gemeinsamen Universum –, die unüberbrückbar war und sich zwischen sie schob.
Linus war stets in der Lage, einen Schritt zurückzutreten und sie aus der Distanz zu betrachten, mit Humor, Belustigung und gesunder Urteilskraft. Doch Stevies verhängnisvoller Fehler war, dass sie sich danach sehnte, eins mit dem Mann zu sein, den sie liebte, voll und ganz mit ihm zu verschmelzen. Er war Wissenschaftler, sie war Künstlerin. Seine Studien waren analytisch, zielten darauf ab, die erstaunliche Anpassungsfähigkeit der Pinguine an eine harsche Umwelt zu erforschen. Ihre Studien, nicht minder wissenschaftlich fundiert, konzentrierten sich hingegen auf einen
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