Wehe wenn der Wind weht
lange geschwiegen hatten, stöhnend zum Leben erwacht seien. Dann merkte er, daß er da kein geisterhaftes Echo gehört hatte, sondern daß es das Rasseln des Aufzugs war.
Er griff nach dem Hauptschalter und legte ihn um. Die Lichter erloschen, und das Jaulen des Aufzugs erstarb. Er nahm einen der Bergarbeiterhelme, schaltete die Lichter ein und begab sich in die Finsternis.
Als er den Rand des Schachtes erreicht hatte, blickte er nach unten. Dreißig Meter unter sich konnte er den Aufzugkorb sehen und darin Edna Amber.
»Miß Edna? Ich bin's, Dan Gurley.«
»Gehen Sie weg, Daniel.«
»Miß Edna? Was tun Sie da?«
Da war ein Schweigen, und als Edna wieder sprach, stieg ihre Stimme leise hoch, als sei sie sehr müde.
»Das geht Sie nichts an, Daniel. Nichts von all dem geht Sie etwas an. Lassen Sie mich allein.«
»Wo ist Diana?«
Wieder herrschte langes Schweigen, und Dan fürchtete, die alte Frau würde ihm nicht antworten. Dann blickte sie zu ihm hoch, und im düsteren Leuchten der Lampe des Schutzhelmes konnte er sie lächeln sehen.
»Sie ist fortgegangen, Daniel«, sagte sie mit hallender Stimme. »Ich habe sie fortgeschickt.«
Langsam erhob sich die alte Frau, und zum ersten Mal konnte Dan sehen, was sie tat.
Zu ihren Füßen stand der Sprengapparat. Drähte, die in die Tiefen des Bergwerks führten, waren an den Kontakten befestigt.
»Jesus«, sagte Dan leise zu sich. »Miß Edna ...?«
»Gehen Sie fort, Daniel«, sagte die alte Frau wieder. »Bitte.«
Sie beugte sich und zog den Hebel des Sprengapparates mit beiden Händen hoch.
Als sie anfing, mit ihrem ganzen Gewicht darauf zu drücken, drehte sich Dan Gurley um und floh.
Eddie Whitefawn spürte die ersten Erschütterungen der Explosion, als er die Kuppe des Schlackenhügels erreichte. Er sah Esperanza Rodriguez vor dem Bergwerkseingang stehen und rief nach ihr, aber sie schien ihn nicht zu hören.
Und dann sah er, wie der Marshal aus dem Bergwerk herausgerannt kam.
»Lauft!« schrie Dan. Eddie erstarrte für einen Augenblick, und begann die Schlackenhalde hinunterzurennen, Dan Gurley auf seinen Fersen.
Die Erde erzitterte unter ihren Füßen, und die Explosion barst aus dem Stolleneingang, stieß schwarzen Schmutz, gemischt mit Feuer und den beißenden Dämpfen des Dynamits aus.
Esperanza Rodriguez bewegte sich nicht von der Stelle.
Als die wuchtige Explosionswelle auf sie zurollte und der Boden unter ihren Füßen wankte, begann sie leise für die Seelen der verlorenen Kinder zu beten.
Als der Eingang des Bergwerks vor ihr zusammenstürzte, löste sich ein Felsen und rollte auf sie zu. Selbst wenn sie es versucht hätte, hätte sie ihm nicht ausweichen können.
Bill Henry hörte in der Hütte Dan Gurleys Schrei und spürte die Explosion. Er fand, daß es sicherer sei, zu bleiben, wo er war.
Christie Lyons, deren Brust sich heftig hob und senkte, kam langsam zu sich. Ihre Augen öffneten sich zitternd, und sie blickte zu Bill auf.
»Mama?« flüsterte sie. »Wo ist meine Mama?«
»Es ist alles gut«, flüsterte Bill ihr zu. »Alles wird jetzt gut werden.«
Doch als die Felsen und Trümmer des Bergwerks auf das Dach der Hütte regneten und Christie - in deren Gesicht die Furcht tief eingemeißelt war - zu weinen begann, da fragte sich Bill, ob etwas jemals für sie wieder gut werden würde.
Erst als die letzten Echos der Explosion verhallt waren und Schweigen über der Nacht hing, nahm er Christie hoch und trug sie hinaus.
Im Morgengrauen hatten sich alle Einwohner von Amberton am Bergwerk versammelt. Sie standen lange Zeit bis in den Morgen hinein in kleinen Gruppen da und redeten leise miteinander. Immer wieder erzählte Eddie Whitefawn, was ihm widerfahren war, und immer wieder versuchte Bill Henry Dianas seltsame Krankheit zu erklären. Die Stadtleute versuchten die Geschichte zu verstehen, so gut sie konnten, doch am Ende konnten sie nur eines begreifen.
Alles hatte mit dem Bergwerk angefangen und aufgehört, und jetzt war das Bergwerk verschwunden.
Und die Ambers, die vor so vielen Jahren alles begonnen hatten, waren ebenfalls verschwunden.
Zumindest würde die Tragödie ein Ende haben, und die Menschen von Amberton konnten ihre Ängste vergessen.
EPILOG
cristie lyons war neunundzwanzig, als sie nach Amberton zurückkam.
Als sie in die Stadt fuhr, merkte sie, wie wenig sich verändert hatte. Sie war ebenso sauber und ordentlich wie immer, in der Zeit erstarrt, wie ein Stahlstich aus der Vergangenheit.
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