Wehe wenn der Wind weht
»Christie! Bist du's wirklich?!«
»Eddie? Eddie Whitefawn?« Christie stand auf und rannte zu Eddie und umarmte ihn.
Eddie drückte sie und zwinkerte dann Carole zu. »Hallo! Ich kannte deine Mutter, als wir ungefähr so alt waren wie du.«
Christie spürte, wie Freude sie durchschauerte, als sie Eddie sah. Obwohl sie keine engen Freunde gewesen waren, hatten sie beide diese letzte Nacht beim Bergwerk überlebt.
»Was tust du hier draußen?« fragte sie.
»Ich will zur Arbeit im Bergwerk«, sagte er. »Ich bin examinierter Bergwerksingenieur.«
»Genau wie mein Vater«, sagte Christie. Aus irgendeinem Grunde fühlte sie sich plötzlich unbehaglich, aber sie wußte nicht warum. Sie nahm eines der Bilder und reichte es Eddie. »Erinnerst du dich an ihn?« fragte sie.
Eddie nickte.
»Mr. Crowley hat immer viel von ihm gehalten. Er sagte, er sei der beste Bergwerksingenieur gewesen, mit dem er je gearbeitet hat. Und er konnte eigentlich nie verstehen, was mit deinem Vater passiert ist.«
Christies Augen verdunkelten sich, und Eddie überlegte, ob er es besser nicht erwähnt hätte. Er blickte auf seine Uhr und schaute dann zu den Bergen hoch. »Sag mal, sollen wir nicht heute abend zusammen essen? Einfach mal über alles reden, ja? Ich muß hoch zum Bergwerk und ein paar Sachen erledigen, denn es sieht so aus, als würde der Wind wehen.«
»Arbeitet ihr nicht, wenn es windig ist?« fragte Carole. Davon hatte sie noch nie gehört - in Los Angeles ignorierten alle den Wind.
Eddie schaute das kleine Mädchen an, und das Lächeln verschwand von seinen Lippen.
»Nicht, wenn ich's verhindern kann«, sagte er. »Ich denke, ich glaube noch immer an meine abergläubischen indianischen Legenden.«
»An welche?« Obwohl Carole die Frage gestellt hatte, wartete auch Christie gespannt auf die Antwort.
»Über die Kinder«, sagte Eddie. »Wenn der Wind weht, kann man die Kinder da oben hören. Sie weinen.«
Als Christie in dieser Nacht in Edna Ambers Bett lag und einzuschlafen versuchte, lauschte sie dem Wind. Er heulte heute nacht, rüttelte an dem alten Haus, und sie konnte spüren, wie das Haus unter seiner Wut erzitterte.
Und irgendwie glaubte sie im Heulen des Windes noch ein anderes Geräusch zu hören.
Ein Kind, das nach seiner Mutter weinte.
Sie stieg aus dem Bett und ging über den Korridor in Dianas Zimmer, in dem Carole schlief.
Aber Carole schlief nicht.
Sie hatte sich zusammengerollt, die Knie dicht an die Brust gezogen und ihren Daumen im Mund. Sie weinte leise. Als sich Christie neben sie kniete, sah das Kind sie an und ihre Augen waren vor Angst ganz groß.
»Es ist alles gut, Baby«, flüsterte Christie. »Mami ist ja da. Mami wird immer da sein.«
Doch in ihrem Herzen fürchtete sie sich, denn sie erinnerte sich an das, was Eddie ihr an diesem Abend beim Essen erzählt hatte.
»Es ist nicht nur dieses Weinen«, hatte er gesagt. »Seit wir klein waren, ist immer etwas in Amberton passiert. Es fing an, kurz nachdem du fortgegangen warst.«
»Was?« hatte Christie gefragt. Eddie hatte einen Augenblick geschwiegen, doch dann hatte er sie angeschaut.
»Unsere Babys sterben«, hatte er leise gesagt. »Wenn der Wind weht, sterben all un sere Babys.«
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