Weihnachtsengel gibt es doch
sie ihm vorlas, und sie mochte es, immer neues Lesefutter parat zu haben. Daisy und Maureen Davenport, die Bibliothekarin, waren dank der vielen Vorlesestunden, die Charlie besucht hatte, Freundinnen geworden.
„Bücher“, sagte er zufrieden, als er sah, wohin sie fuhren.
„Richtig. Und zwar alle, die du willst.“
„Sechs Bücher“, sagte er. Er hatte keine Ahnung, wie viele das waren, aber er kannte die Zahl sechs.
„Das stimmt. Wir dürfen sechs Bücher auf einmal ausleihen.“ Als sie aus dem Auto stieg, sah sie einen Jungen quer über das Grundstück der Bücherei gehen. Er trug einen Rucksack über einer Schulter. Seine Armyjacke und sein leichter, lässiger Gang hatten ihre Aufmerksamkeit erregt. Er ging nicht, wie die meisten Menschen es im Schnee taten, nämlich vornübergebeugt, die Hände tief in den Taschen vergraben. Nein, er ging entspannt und locker, mit einem leichten Schwung in den Schritten und mit einem Rücken so gerade wie die umstehenden Bäume. Er wirkte, als wenn die Kälte ihm überhaupt nichts anhaben könnte. Seine Jacke, die Bäume und der Schnee bildeten einen tollen Kontrast, und so holte Daisy schnell ihre Kamera heraus. Sie besuchte gerade einen Kurs zum Thema „Editorial Shoots“, und das hier könnte ein guter Schuss sein.
Charlie ließ vom Rücksitz ein ungeduldiges Jammern hören. „Einen Moment noch“, sagte sie und machte zwei weitere Bilder. Dann steckte sie die Kamera weg und holte ihren Sohn aus dem Kindersitz. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Eingang der Bücherei, wobei Charlie seine Arme ausbreitete und so tat, als wäre er ein Flugzeug.
Direkt hinter der Tür stand ein großes Plakat mit einem dringenden Spendenaufruf. Helfen Sie uns, unsere Bücherei zu erhalten, stand da. Ohne Sie schaffen wir es nicht. Daisy wühlte in ihrer Tasche und hole eine Zehndollarnote heraus, die sie in die bereitstehende Spendenbox steckte. Sie hatte mehr als das gespart, weil sie nicht das Weihnachtsmann-Deluxe-Paket gekauft hatte. Und noch viel mehr, weil sie alle und so viele Bücher leihen konnte, wie sie wollte.
Sie brachte Charlie direkt in das Kinderzimmer und schälte ihn dort aus seiner Jacke. Im Moment waren sie die einzigen Besucher in diesem Bereich. Was gut war, denn inGegenwart von anderen Kindern neigte Charlie dazu, zwar sehr freundlich, aber auch sehr laut zu sein – ein weiteres Erbe seines Vaters und dessen irischer Familie. In Büchereien und in der Kirche musste sie ihren Sohn andauernd ermahnen, leise zu sein.
Genau wie seinen Vater.
Maureen kam mit einem Rollwagen voller Bücher auf sie zu. Die Bücherei von Avalon hatte keine spezielle Kinderbuch-Bibliothekarin, was, wie Daisy nach dem Aufruf am Eingang vermutete, einen einfachen finanziellen Grund hatte.
„Hey, Maureen“, flüsterte Daisy. „Wie läuft’s?“
„Gut, danke.“ Maureen lächelte, doch sie wirkte ein wenig müde. Vielleicht auch besorgt. Maureens Alter war schwer zu schätzen. Sie konnte irgendwo zwischen vierundzwanzig und fünfunddreißig sein, das war anhand ihrer Kleidung schwer zu sagen. Twinsets und leicht ausgestellte, knielange Röcke ließen alle Frauen gleich alt aussehen. Maureen war eigentlich eine sehr hübsche Frau, doch sie machte sich nicht viel aus ihrem Aussehen. Was Daisy bewunderte. Bevor sie Charlie bekam, war Daisy ein Musterbeispiel für einen von Unsicherheiten geplagten Teenager gewesen. Sie hatte Stunden damit zugebracht, das perfekte Outfit herauszusuchen, sicherzustellen, dass ihre Haare richtig saßen und ihr Make-up eines Covergirls würdig gewesen wäre. Wenn sie sich nicht so wichtig genommen und stattdessen einfach die Haare zusammengebunden und ein Twinset angezogen hätte, wäre ihr Leben vielleicht ganz anders verlaufen.
Natürlich wäre es das. Mit Sicherheit hätte sie dann Charlie nicht. Logan hätte sie keines weiteren Blickes gewürdigt, wenn sie sich ihm nicht an diesem einen verrückten Wochenende an den Hals geworfen hätte.
Da der bloße Gedanke an ein Leben ohne Charlie für sie vollkommen unerträglich war, erlaubte sie sich auch nicht, ihn weiterzuverfolgen.
„Gerade ist ein neues Buch von Jan Brett reingekommen“, sagte Maureen und nahm es von dem Rollwagen. „Ganz wunderbare Schneebilder.“
„Danke.“ Daisy nahm das Buch und bewunderte die feinen Zeichnungen. Charlie schob eine Ausgabe von Thomas, die kleine Lokomotive auf dem Boden herum und machte Zuggeräusche mit seinen Lippen.
„Ich sehe schon, Charlie
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