Weine ruhig
Gleichgültigkeit der christlichen Bevölkerung.
Wir waren Zuschauer bei den Siegesfeiern, die zusammen mit den Streitkräften der Befreier abgehalten wurden. Während der Feierlichkeiten stießen wir auf die drei Jungen, mit denen wir so viele Monate das Versteck geteilt hatten. Ronny und ich wollten uns umarmen, aber anders als in der Dunkelheit der Höhle waren wir vor den Augen der anderen zu schüchtern, um uns zu berühren. Nur unsere Augen drückten unsere Liebe aus und unsere Freude darüber, uns wiederzusehen. Wir lernten auch zwei andere jüdische Familien kennen, die von Dorfbewohnern versteckt worden waren. Sie hatten mehr Glück gehabt als wir, weil sie in einem gemütlichen, sicheren Haus Zuflucht gefunden hatten und nicht in einem modrigen Loch hausen mussten. Im Unterschied zu uns hatten sie sehr viel Geld und waren daher in der Lage, ihre Beschützer für die Wohltaten, die sie ihnen erwiesen, zu bezahlen. Alle priesen unseren Mut und unseren Einfallsreichtum und die Ausdauer, die wir gezeigt hatten.
In den nächsten Tagen suchten wir Kinder nach Möglichkeiten, uns die Zeit zu vertreiben. Im Hof der Tokolys befand sich ein Brunnen mit einer runden Einfassung aus rotem
Backstein. Wir amüsierten uns, indem wir mit dem Eimer, der an ihm befestigt war, Wasser hochzogen und wieder zurückschütteten. Wir kletterten auf den großen Baum, der vor dem Haus an der Straße stand, und fütterten die Tiere, die beiden Kühe, die vier Schweine, die Kaninchen in ihren Käfigen und die Hühner und Enten, die frei im Hof und auf der Straße herumliefen. Die russischen Soldaten, mit denen wir uns am Tage unserer Befreiung angefreundet hatten, besuchten uns hin und wieder.
An einem sonnigen Tag saßen wir im Hof und wärmten uns, als der jüdische Offizier bei uns vorbeischaute. Er bat um ein Glas von dem klaren, frischen Wasser, das wir gerade aus dem Brunnen hochgezogen hatten, und ich war glücklich, seinem Wunsch nachkommen zu können. Doch ehe ich das Glas füllen konnte, riss Vincent es mir aus der Hand, um unserem Gast seinen selbst gekelterten Wein zu kredenzen. Das Glas zerbrach in meiner Hand, und ich schnitt mir tief in die Finger. Wir waren alle entsetzt, besonders Vincent, der fühlte, dass es seine Schuld war.
Der Offizier eilte mit mir zum Feldlazarett. Aber der Arzt sagte, der Schnitt sei zu tief, als dass er die Nerven und Venen zusammenflicken könnte. Und er hatte auch keine Schmerztabletten mehr.
Die Schmerzen waren unerträglich, und ich weinte Tag und Nacht. Es dauerte nicht lange, und die Wunde entzündete sich und eiterte. Die Folge war, dass ich das Gefühl in den Spitzen beider Finger verlor. Bis heute sind sie sehr empfindlich, besonders bei Kälte, ein schmerzhaftes Souvenir, das einen leichten Schatten auf jene berauschenden Tage der Befreiung wirft.
Als wir in Nitra wieder in die kleine Wohnung einzogen, die bis zu unserer Flucht unser Zuhause gewesen war, hatte die Rote Armee bereits den größten Teil der Slowakei eingenommen. Einige wenige Juden, Überlebende der Todeslager, kehrten nach und nach in die Stadt zurück. Sie waren gebrochene Menschen und gingen verängstigt durch die Straßen, sahen sich ständig nach allen Seiten um, waren tief verstört.
Schon wenige Tage nach unserer Ankunft konnten wir eine geräumigere Wohnung mieten und dort den Sederabend begehen, genauso wie Vater es vorausgesagt hatte. Wir luden einige Flüchtlinge ein, die in der Schoah ihre Angehörigen verloren hatten und völlig allein zurückgeblieben waren. Sie blickten traurig und gaben sich große Mühe, unsere Freude zu teilen. Für uns hatte dieser Vorabend des Pessachfestes eine ganz besondere Bedeutung, und wann immer wir zusammen den Sederabend begingen und aus der Haggadah vorlasen und zu der Zeile kamen: »Als Israel aus Ägypten kam«, fügte Vater hinzu: »Und als wir aus Jarok kamen, waren wir wie Träumer...«
Seit jenem ersten Pessach nach der Befreiung haben wir nie vergessen, den traditionellen Worten der Haggadah diesen Satz hinzuzufügen.
»Großmama, wie ging es weiter, als ihr wieder in Nitra wohntet? Seid ihr nochmals nach Jarok gefahren, um die Tokolys zu besuchen? Und wann seid ihr nach Israel gegangen?«, fragte Omer.
»Wir haben uns bemüht, den Tokolys so viel an Unterstützung zurückzugeben, wie wir nur konnten. Nach dem Krieg herrschten in Europa lange Zeit chaotische Zustände - es fuhren nur wenige Züge, und für Autos und Busse gab es weder Benzin noch
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