Liebeskind
1
Rainer Herold rieb sich die Augen und gähnte. Hinter ihm lagen viele Flugstunden von New York nach Hamburg, vor ihm ein wichtiger Geschäftstermin. Dazwischen lag Maschen. Er sah aus dem Fenster auf die ordentlich geharkten Wege, kein Grashalm wuchs, wo er nicht hingehörte. Maschen, das Kaff, wie sehr er es doch verachtete. Und seine Eltern lebten noch immer in diesem Haus, von dessen oberem Stockwerk er nun in die Nachbargärten hinunterschaute und in dem er vor fünfunddreißig Jahren geboren worden war. Gerade eben hatte er die beiden ziemlich kurz abgefertigt, trotzdem empfand Rainer keine Reue. Sie würden damit umgehen müssen, dass er erst einmal seine Ruhe haben wollte. Er saß auf der Bettkante in seinem alten Zimmer und starrte auf die Glasvitrine mit den Sportpokalen. Immer würden sie die Zeugen einer erfolgreichen Jugend bleiben. Seine Eltern hatten alles so gelassen, wie es gewesen war, bevor er fortging. Warum eigentlich? Rainer war zu müde, um ernsthaft darüber nachzudenken. Er ließ sich von der Bettkante auf die Daunendecke zurückfallen und schlief sofort ein.
Es war bereits dunkel, als er aufwachte. Schnell sprang er aus dem Bett, zog sich den an den Rändern ausgefransten, blauen Bademantel mit dem goldbestickten Klubabzeichen über und lief die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Seit erdie Tür zu seinem Apartment in New York hinter sich zugeschlagen hatte, lag der Duft von Sauerbraten in der Luft. Seine Mutter und ihr Sauerbraten; kochen konnte sie wirklich. Dafür lohnte sich der weiteste Weg.
Auf dem letzten Treppenabsatz angekommen, stolperte er über seine Laptoptasche, die noch immer dort lag, wie er sie vorhin fallen gelassen hatte, und stieß sich den Fuß an der Bodenvase. Unten war es dunkel. Es roch auch nicht nach Essen. Fluchend rieb er sich seinen großen Zeh, machte Licht und fand schließlich einen Zettel auf dem Küchentisch. „Lieber Junge, wir sind heute Abend bei Schultes eingeladen und wollten dich nicht stören. Falls du Hunger hast, im Kühlschrank ist Heideschinken. Die Butter und das Schwarzbrot findest du, wie immer, in der Speisekammer. Bis nachher – Mama.“
Er zerriss das Blatt, dann warf er die Schnipsel in den Mülleimer. Da flog er um die halbe Welt, fairerweise musste er eingestehen, nicht nur, um seine Eltern zu besuchen, und dann waren die beiden einfach ausgegangen. Sie hatten nichts Besseres zu tun gehabt an diesem Abend, als den senilen Schulte und seine ewig nörgelnde Frau zu besuchen. Nachbarn, die sie sowieso täglich sahen. Sein Magen meldete sich wieder, doch die Aussicht auf ein paar belegte Brote machte seine Gier nach einer warmen Mahlzeit nur noch schlimmer. Nein, er würde nicht hier herumsitzen und warten, bis sie geruhten zurückzukommen.
Rainer Herold zog den Mantelkragen hoch, als er in den bedeckten Winterhimmel starrte. Während seine Augen die Sterne suchten, lehnte er sich für einen Moment an die Hauswand. Er bemerkte nicht, wie sich dabei eine Spinnwebeauf seinen Kopf legte, ein Überbleibsel des vergangenen Altweibersommers. Jetzt hing ein Teil davon vor seinem Auge herum. Hastig fuhr er sich mit den Händen durch die Haare und sah den Rest des Gespinsts an seiner Hand kleben. Die gesponnenen Fäden waren mit Leichenteilen irgendwelcher Insekten durchsetzt, schwierig, das Zeug an seiner Hose abzuwischen. Rainer schüttelte sich. Wenn er etwas nicht leiden konnte, waren es von jeher Spinnen gewesen. Ein scharfer Wind schlug ihm entgegen, scheißkalt und nass war es hier, wie immer. Als er die Tür zum Gasthof öffnete, umfing ihn sogleich ein vertrauter Geruch von Schweinebraten, Rotkohl und Provinz. Neben dem Eingang stand der schmiedeeiserne Schirmständer, an der gegenüberliegenden Wand, wie früher, der alte Zigarettenautomat. Wenn er nur daran dachte, wie viel er gesehen und erlebt hatte, seit er zuletzt in Deutschland gewesen war. Doch hier, in dieser Kneipe, war gar nichts passiert. Allein die nordische Schneelandschaft hatte einen neuen, kitschig blauen Rahmen bekommen.
Er suchte sich einen Tisch, von dem aus er die gesamte Gaststube gut im Blick hatte. Die Kellnerin kam auf ihn zu, und er bestellte das Stammessen und ein großes Bier. Sie hatte Rainer nicht erkannt, dabei waren sie früher einmal in dieselbe Schule gegangen. Ob das an den paar Pfunden mehr lag, die er mit der Zeit angesetzt hatte? Nein, es konnte nur seine Ausstrahlung sein, die ihn tarnte. Der Geruch des Erfolges, den die Leute hier nicht kannten.
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