Weine ruhig
Aber als wir dem Soldat das Wasser brachten, sahen wir, dass er enttäuscht und sogar beleidigt war. Er sah uns mit kaum unterdrückter Wut an. Schließlich fluchte er und setzte eine Miene auf, die glauben machte, er wäre das Opfer eines gemeinen Streichs.
Seine Freunde klärten ihn über das Missverständnis auf, und als er unsere unschuldigen, verängstigten Gesichter sah, nahm er den Eimer, goss das Wasser aus und stampfte mit den Füßen, murmelte irgendetwas, lächelte und ging.
Als wir spätnachts wieder in der Höhle waren, schliefen meine Schwestern sofort ein, aber wir anderen waren zu aufgewühlt, um zu schlafen. Wir unterhielten uns über die Ereignisse des Tages und stellten uns zahlreiche Fragen, die uns beunruhigten: Was würde der morgige Tag bringen? Würden wir wieder in unser altes Zuhause zurückkehren können?
Wen würden wir dort antreffen? Wie war es unserem Cousin Simon ergangen, der mit uns aus Ungarn geflohen war? Was war mit unseren vielen Verwandten und Freunden geschehen, von denen wir so lange nichts gehört hatten? Wir wussten, es würde lange dauern, bis wir wieder ein normales Leben führen könnten. Jeder von uns versuchte, sich die Welt auszumalen, die »da draußen« auf uns wartete. Wie würden wir uns in der Gesellschaft wieder zurechtfinden?
Wir redeten darüber, wie viel Wissen wir nachholen müssten, dass wir wieder zur Schule gehen würden und nach Palästina auswandern wollten. Für uns stand fest, dass wir nicht länger in einem Land leben wollten, in dem die Mehrheit der Bevölkerung nicht nur nichts gegen die Verfolgung der Juden unternommen, sondern sogar mit den Nazis kollaboriert hatte. Ja, wir waren zwar nicht mehr von Verfolgung und Deportation bedroht, aber Zukunftsängste und unbeantwortete Fragen hielten uns wach. Gleichzeitig hörten wir nicht auf, unser großes Glück zu preisen. Wir blickten in Zorn und Schmerz zurück auf den langen Leidensweg unseres Volkes, aber zumindest in unserem Fall lag in diesem Rückblick auch eine gewisse Genugtuung. Wir hatten überlebt, dank unseres Muts.
Doch unsere Freude über die Freiheit war nicht ungetrübt, wir machten uns Sorgen um unsere Familien. Die drei Jungen konnten sich ebenfalls nicht von ihren Ängsten um ihre Angehörigen befreien. Bald würden wir erfahren, ob auch sie überlebt hatten.
Am meisten sorgten wir uns um unsere Großeltern. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass sie die Deportation in ein »Arbeitslager« überstanden hatten (wir wussten zu dem Zeitpunkt ja noch nicht, dass sie in Gaskammern ermordet und ihre Körper verbrannt worden waren). Mutter, die von Natur aus pessimistisch war, wurde von einer tiefen Traurigkeit ergriffen und von Gewissensbissen geplagt; sie weinte meistens still vor sich hin. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie ihre Eltern nie wiedersehen würde.
In der Zwischenzeit zog die Front an Jarok vorüber, und die Schlachtgeräusche entfernten sich. Man gestattete uns, in die bereits befreiten Zonen zu gehen. Der Boden war wie mit Pockennarben von den Einschlägen gezeichnet, und wir sammelten Bombensplitter und Patronenhülsen. Wir sahen auch Pferdekadaver mit glasigen Augen und steifen Gliedern, die sich in den Himmel reckten. Über allem hing der Gestank von Verwesung. Aus einem großen Zelt, das als Feldlazarett diente, drang das Stöhnen verwundeter Männer. Als wir uns einigen abgedeckten Lastwagen näherten, die neben dem Lazarett standen, scheuchte man uns weg. In den Wagen lagen tote Soldaten. Sobald die Kämpfe nachließen, würde man sie im Dorf bestatten.
Am dritten Tag nach unserer Befreiung sagte Vater mit leuchtenden Augen, dass wir jetzt nach dem jüdischen Kalender den Monat Nissan hätten und bald Pessach feiern könnten. Und so Gott wolle, sagte Vater, würden wir den Se-derabend in Nitra begehen. Wir hofften, dass wir dort matzot (ungesäuertes Brot) bekommen und einen richtigen Seder abhalten könnten.
Vaters Worte klangen wie aus einer anderen Welt. Wer erinnerte sich noch daran, dass es religiöse Feste auf der Welt gab und auf welchen Tag sie fielen? Aber Vater hatte die Tage, Wochen und Monate in Gedanken stets gezählt. Jeden Monat hatte er den Neumond registriert, und er kannte die Daten der Feiertage auswendig.
Vater hatte bisher unaufhörlich Pläne gehabt, und wir waren den meisten mit großer Skepsis gefolgt. Seine Hoffnung, dass wir nach der Befreiung das Pessachfest feiern könnten, klang illusorisch. Aber je länger wir darüber nachdachten,
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