Weinrache
entgegen, als er den Pfad ins Nerotal hinunterstieg. Vorn auf der Plattform stand ein junger Mann mit einem Kind an der Hand. Der blonde Junge winkte vergnügt und ließ ihn an Arthur denken, als dieser ein Schulkind war. Merkwürdig, wie oft er sich in der letzten Zeit auf dessen Kindheit besann. Er führte die unglücklichen Erinnerungen auf den Geburtstag zurück. Diese vertrackten 60, die ihm schonungslos klar machten, wie rasant die Zeit gegen ihn arbeitete. Dass sie sich niemals umkehren ließ. Nichts von all dem Versäumten wäre gutzumachen. Arthurs Kindheit gehörte zu diesen verlorenen Zeiten. War er jemals mit seinem Sohn mit der Nerobergbahn gefahren? Hatte ihm, wie jeder gute Vater, den Mechanismus dieser Museumsbahn erklärt? Die beiden Waggons zogen sich gegenseitig den Berg hinauf. Das erforderliche Gegengewicht lieferte ein Wassertank unterhalb des Wagens. An der Talstation wurde der Ballast abgelassen; eine Mechanik, die jeden Jungen faszinieren musste. Auch den kleinen Arthur? Er konnte sich an keine Fahrt mit seinem Sohn erinnern. Nur ein Versäumnis von vielen anderen.
Während er den Kehren ins Tal folgte, strömten die Entschuldigungen auf ihn ein, die er sich im Lauf der Jahre zurechtgelegt hatte. Argumente, die so schal schmeckten wie abgestandenes Bier. Dass er viel zu jung Vater geworden sei, gerade 19 Jahre alt und hungrig auf das Leben. Ende der 60er-Jahre galt es in den Kreisen seiner Eltern noch als Schande, ein uneheliches Kind in die Welt zu setzen, und weder er selbst, noch die glücklose junge Frau hatten den Mut, sich den Forderungen der Eltern zu verweigern. So wurde geheiratet, und das junge Paar zog in die Villa der Familie Tann. Später nahm er sich jeden Freiraum, widmete sich der Lehre im Verlag seines Onkels, später dem Studium, während die junge Frau, unter der strengen Obhut der Schwiegereltern, nur für das Kind leben durfte. Eine stille Frau, die ihm immer fremd blieb. Sie war keine Jugendliebe; einfach nur ein Mädchen, auf das er sich aus Neugierde einmal zu oft eingelassen hatte. Nach wenigen Jahren wurde sie krank, welkte dahin wie eine Pflanze ohne Licht. Als hätte sie sich aufgegeben. Obwohl sie vor drei Jahrzehnten gestorben war, gelang es ihr in letzter Zeit immer öfter, sich in seine Gedanken zu drängen. Als wollte sie als Tote nachholen, was ihr als Lebende nicht vergönnt war: einen Platz in seinem Leben zu erobern. Arthur dagegen war es inzwischen gelungen, diesen Platz einzunehmen. Oder, überlegte Lutz selbstkritisch, war es nicht eher so, dass er sich als Vater diesen Raum in Arthurs Leben erkämpft hatte? Reichlich spät. So war es auch keine übliche Vater-Sohn-Beziehung; eher ein Verhältnis zwischen sich respektierenden Freunden.
Gegen trübsinnige Grübeleien half am besten Bewegung. So setzte er sich wieder in Trab, sobald er die Straße erreicht hatte, und lief unter dem Viadukt hindurch in die angrenzenden Nerotalanlagen. Er wich einer Gruppe Stöcke schwingender Nordic Walkerinnen aus, umrundete in gedrosseltem Tempo einen Schäferhund samt Herren und trabte, statt nach links zu schwenken und in die Lanzstraße einzubiegen, die ihn zu seinem Haus führen würde, weiter geradeaus und inmitten des Parks entlang bis in die Taunusstraße. Eine väterliche Sehnsucht nach Arthur hatte ihn gepackt; ein ungewohntes Gefühl, dem er umgehend nachgehen wollte.
Gewöhnlich war sein Sohn samstags zeitig in seinem Laden, der nun um kurz vor 11 Uhr seit einer Stunde geöffnet war. Doch nur Josef Brunner trat Lutz entgegen. Die hünenhafte Gestalt hielt er wie immer ein wenig vorgebeugt, als wäre so viel körperliche Präsenz einem Kunst- und Antiquitätenhandel unangemessen. Josefs sonst meist zufriedene Miene wirkte angespannt. Trotzdem begrüßte er den Besucher mit freundlicher Zurückhaltung.
»Ist Arthur bei einem Kunden?«
Das wüsste er selbst gern, erwiderte Josef Brunner. Er sei nur zufällig im Laden, weil er seine Tasche vergessen habe. Eigentlich habe er seinen freien Tag. Anstatt seinen Besorgungen nachzugehen, telefoniere er seit einer Stunde hinter Arthur her. Bislang ohne Erfolg.
So besorgt hatte Lutz den Geschäftspartner seines Sohnes niemals erlebt. »Darf Arthur sich nicht einmal verspäten?«
Josef Brunner schüttelte den Kopf. »Das passt nicht zu ihm. Er hätte mich angerufen. Arthur lässt den Laden nicht im Stich. Du kennst ihn doch!«
Eine Floskel, die Lutz zu denken gab. Was wusste er wirklich über seinen Sohn? Er fragte
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