Weiskerns Nachlass
zu kommen, er will nicht auf seine alten Tage eine dubiose Geschichte anfangen. Sich auf einen unzulässigen, einen strafwürdigen Betrug einlassen. Nur, dass dieser verfluchte Sebastian Hollert der Zugang zu seinem Weiskern ist. Zugang zu dem verrückten Onkel und seinen Schätzen, zu diesem Archivar, Sperber heißt er oder so ähnlich, erlangt er nur über Sebastian Hollert. Wenn er die Bestechung ablehnt, wenn er dem Schnösel ein wohlverdientes Ungenügend, ein Nichtbestanden attestiert, wird er die Weiskern-Manuskripte in diesem Leben nicht zu Gesicht bekommen. Dieser sonderbar Onkel von Hollert, er muss an ihn heran. Er muss seine Eitelkeit kitzeln, ihn herauszufordern. Er hat genügend Geld, er könnte ihm bei der Herausgabe der Werke von Weiskern behilflich sein. Könnte sie unterstützen oder die alle Hindernisse beiseite räumenden Kontakte knüpfen. Der Frankfurter Verleger, dieser Jürgen Richter, wird keinen Pfennig investieren. Er ist an der Ausgabe interessiert, wird aber nur diese hundert Exemplare kaufen. Einhundertfünfundzwanzig, immerhin. Doch keinen Penny mehr. Weiskern, wie war er vor zehn Jahren nur auf ihn verfallen? Ein anderes Thema, ein bedeutsameres Forschungsobjekt hätte Punkte gebracht, hier und da ein Stipendium, eine Förderung, Beihilfen. Weiskern ist kein Leuchtturm, ist es nicht mehr. Seinerzeit hatte er sich gut mit Maria Theresia verstanden, hatte sie für sich einnehmen können. Er ließ sich von ihr fördern, vermutlich hatte er dafür seinen Preis zuzahlen. Weiskern würde vermutlich über ihn lachen. Er wusste, wie man die entscheidenden Leute für sich gewinnt. Das war eine andere Zeit, da hatte keiner solche Bedenken. Die Kröte, an der du nicht vorbeikommst, die musst du schlucken. Wenn er Sebastian Hollert die ihm gebührende Abfuhr erteilt, entgeht ihm nicht nur dringend benötigtes Geld, Geld, auf das das Finanzamt lauert. An die Weiskern-Briefe wird er dann nicht herankommen. Die Herausgabe der Schriften kann er in den Wind schreiben. Es wird sie nicht geben, nicht in seiner Lebenszeit und nie. Auch nicht später, denn wer außer ihm wird sich schon für diesen kleinen Schreiberling einsetzen. Er hat dann eine makellose Weste, aber ein paar Forderungen am Hals, die ihm die Kehle zuschnüren. Doch wenn er die Kröte schluckt, diesen Sebastian Hollert, dann kann er auch der kleinen Lilly behilflich sein. Sich auf die vergnüglichste Art seine Hilfe honorieren lassen. Dann ist er von einem Manfred Krupfer nicht zu unterscheiden. Im gleichen Sumpf wie dieser Kerl. Vermutlich werden es die Studenten mitbekommen, sie werden darüber schwatzen. Dann hat er es geschafft. Dann wird er von ihnen nicht anders gesehen und beurteilt als Krupfer. Zwei kleine Dozentenferkel. Ich sollte Patrizia anrufen, mich mit ihr treffen. Nur um zu hören, wie es ihr geht. Wir waren schließlich einige Zeit zusammen gewesen, fast sechs Monate.
Er öffnet erst wieder die Augen, nachdem die Maschine aufgesetzt hat und ausrollt. Das Flugzeug bekommt keinen Platz am Terminal, bleibt im Vorfeld stehen, der Ausstieg verzögert sich, die Besatzung wartet die Ankunft des Busses ab, der die Passagiere zur Haupthalle fährt.
Noch im Flugzeug schaltet Stolzenburg sein Handy ein, auf der Treppe tippt er die Codenummer und behält es in der Hand, er wartet auf Gotthardts Nachricht. Auf dem Weg zum Bus hält er inne und geht ein paar Schritte seitwärts. Er steckt das Handy in die Hemdtasche und betrachtet die beiden Düsentriebwerke unter der linken Tragfläche, er schaut sie verwundert an, kopfschüttelnd. Eine junge Frau mit dem Signet des Flughafens auf ihrem Blazer spricht ihn an.
»Ist alles in Ordnung?«
Stolzenburg nickt.
»Dann darf ich Sie bitten, in den Bus zu steigen. Zu Ihrer eigenen Sicherheit.«
Stolzenburg nickt nochmals, dreht sich um und folgt den anderen Passagieren. Sein Handy vermeldet piepsend eine Nachricht. Bevor er es herauszieht, fällt ihm Fritz ein, der Mathematiker, der ihre Billardrunden organisiert. Wenn er wieder daheim ist, muss er ihn anrufen, er hat die Runde beim letzten Mal sehr kurzfristig versetzt, und Fritz soll nicht den Eindruck haben, ihr monatliches Treffen sei für ihn nicht mehr wichtig. Die Billardrunde wird er nicht aufgeben, mit diesen Freunden ist er bereits eine Ewigkeit zusammen, die Runde hat länger gehalten als seine Ehe, er gehörte dazu, noch bevor er an der Uni anfing, und dort hat er keine halbe Stelle, dort zählt er zu den alten, erfahrenen
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