Anastasija 08 - Im Antlitz des Todes
Erstes Kapitel
»Wenn Sie eine Nachricht hinterlassen möchten, sprechen Sie bitte nach dem Signalton. Wenn Sie ein Fax aufgeben möchten, können Sie jetzt senden . . .«
Ljuba warf den Hörer mit einem tiefen Seufzer auf die Gabel und kämpfte gegen die Tränen an, die ihr in die Augen schossen. Schon seit Monaten hörte sie diese kalte, gleichgültige Stimme, die sie aufforderte, eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen.
»Na, haben Sie diesmal Glück gehabt?«, erkundigte sich der sympathische Hauptmann der Miliz mitfühlend, der sich vor einer halben Stunde Ljubas erbarmt und ihr erlaubt hatte, das Telefon in seinem Büro auf dem Flughafen Scheremetjewo zu benutzen. »Oder hat sich wieder niemand gemeldet?«
»Wieder niemand«, erwiderte Ljuba und drehte ihren Kopf weg, um zu verbergen, dass sie mit aller Macht gegen die Tränen ankämpfte.
»Dann rufen Sie doch jemand anderen an«, riet ihr der Milizionär. »Gibt es denn sonst wirklich niemanden, der Sie abholen könnte?«
Nein, es gab niemanden. Ljuba wollte nur von Strelnikow abgeholt werden. Und der war nicht da. All die langen, qualvollen Monate in der Türkei hatte sie versucht, ihn zu erreichen, hatte sich das Geld für die teuren Telefonkarten vom Munde abgespart und immer wieder in Moskau angerufen, aber statt Strelnikows lebendiger Stimme hatte sich nur der Anrufbeantworter gemeldet, während die kostbaren Sekunden vergingen und das Guthaben von der Telefonkarte fraßen. Vor drei Tagen hatte sie ihm in ihrer Verzweiflung schließlich doch eine Nachricht hinterlassen, sie hatte ihm die Flugnummer und das Datum ihrer Rückkehr nach Moskau mitgeteilt und darum gebeten, sie vom Flughafen abzuholen. Sie hatte ihm gesagt, wie sehr er ihr gefehlt hatte und wie sehnsüchtig sie das Wiedersehen mit ihm erwartete. Sie hatte noch irgendwelche anderen zärtlichen Worte aufs Band gesprochen, so lange, bis das Fiepen im Hörer ankündigte, dass die Telefonkarte zu Ende ging. Sie wollte, dass Strelnikow leichten Herzens zum Flughafen kam, er sollte sich nicht vor Vorwürfen und Angriffen fürchten. Aber er war nicht gekommen.
Sie wählte die Telefonnummer einer guten Freundin. Obwohl nicht mehr sicher war, dass Mila wirklich noch ihre Freundin war. Schließlich hatte sie Ljuba im Stich gelassen und war allein nach Moskau zurückgeflogen. Aber durfte sie Mila deshalb böse sein? Sie waren gemeinsam in den Schlamassel geraten, keine von beiden war schuld daran, es hatte nur an ihrer Dummheit und übertriebenen Vertrauensseligkeit gelegen. Hinterher musste jede selbst sehen, wie sie da wieder herauskam, und Mila war das schneller geglückt, sie hatte dafür die besseren Voraussetzungen gehabt. Durfte Ljuba ihr daraus einen Vorwurf machen? Mila war bereits Anfang Juni nach Moskau zurückgeflogen, während Ljuba noch bis Oktober in der Türkei hängen geblieben war.
Auch Mila nahm nicht ab. Wie sollte Ljuba vom Flughafen in die Stadt kommen? Sie besaß keine einzige Kopeke. Von dem türkischen Restaurantbesitzer, für den sie die ganze Urlaubssaison über geschuftet hatte, hatte sie nur einen Schlafplatz in dessen Haus und eine magere Verköstigung bekommen. Sie hatte nur für die Visagebühr und das Ticket nach Moskau gearbeitet und nie Bargeld erhalten. Wenn sie eine neue Telefonkarte für ihre Anrufe in Moskau brauchte, musste sie eine Mahlzeit ausfallen lassen. Dafür bekam sie dann zwei, drei Dollar auf die Hand. Hunger wurde zur Gewohnheit für sie. Die Kellner und Köche des Restaurants wären zwar bereit gewesen, ihr heimlich etwas aus der Küche zuzustecken, aber das hätten sie nicht umsonst getan. Und das war nichts für Ljuba. Sie hieß schließlich nicht Mila, die es gewohnt war, alle ihre Probleme über das Bett zu lösen. Auf diese Weise hatte sie es auch geschafft, sich das Geld für den Rückflug nach Moskau viel schneller zu verdienen als Ljuba und bereits zu Beginn des Sommers die Türkei wieder zu verlassen. Mila fürchtete sich vor nichts und hatte Mut zum Risiko. Ljuba hingegen war ängstlich, und außerdem lagen ihr Milas Methoden nicht.
»Hier, trinken Sie einen Schluck«, sagte der Milizionär namens Georgij und stellte eine Tasse mit dampfendem Tee und ein Paket Würfelzucker vor Ljuba hin.
»Danke«, murmelte Ljuba gerührt und nippte an dem heißen Tee. »Darf ich noch einmal anrufen?«
»Natürlich, nur zu«, lächelte Georgij. »Irgendwie müssen Sie ja von hier wegkommen. Telefonieren Sie in aller Ruhe, lassen Sie
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