Weiß wie der Tod
Seite.
In der Küche röchelte die Kaffeemaschine.
»Es gibt Arbeit.«
»Ich bin krankgeschrieben.«
Michaelis tauchte in der Tür auf. »Seit wann?«
»Seit heute.«
Sie setzte sich auf den Rand der Badewanne und strich ihm über den Kopf. »Es tut mir leid für dich. Ich weiß …«
»Nichts weißt du.«
»Ich kann es mir vorstellen, okay?«
Die Antwort erstickte sie mit dem Finger auf seinen Lippen. »Es muss fürchterlich sein, wieder mit Frank konfrontiert zu werden. Aber ich verspreche dir, dass es das letzte Mal in deinem Leben sein wird.«
»Du meinst, es geht mir besser, wenn er hinter Gittern sitzt?«
»Er wird nie wieder herauskommen.«
»So lange er lebt, wird er nicht mehr gutmachen können, was er uns angetan hat.«
Michaelis schwieg, denn Levy hatte recht. Auch sie war Franks Opfer gewesen und war nur knapp dem Tod entronnen. Sie hatte im Krankenhaus viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Doch diese Erfahrung ließ sich nicht mit dem Verstand verarbeiten. Frank de Meer hatte ihr die Selbstsicherheit geraubt, sie im tiefsten Inneren erschüttert, verunsichert und verletzt. Seitdem sah sie die Welt mit anderen Augen. Eine Körperverletzung oder ein Mord war nicht mehr bloßer Tatbestand aus dem Strafgesetzbuch, sondern gelebte Erfahrung. Das war eine ganz andere Qualität.
Sie kam zum Thema. »Wir haben eine neue Leiche.«
» Quelle surprise « , antwortete Levy lakonisch.
»Es handelt sich um einen Mann, den wir heute im Nikolaifleet gefunden haben.«
»Wenn du alle Fleete trockenlegen würdest, fändest du noch mehr.«
»Er weist dasselbe Verletzungsmuster auf wie der von letzter Woche.«
»Dann ist die Sache einfach. Ihr sucht denselben Täter.«
»Wir haben noch ein anderes Opfer. Von ihr gibt es nur Einzelteile.«
»Gut, dann sucht ihr eben zwei Täter.«
»Hör mit deinem Sarkasmus auf. Ich möchte, dass du mir hilfst.«
Levy lachte bemüht. »Es ist das erste Mal, dass ich Sven recht gebe. Ich bin ein Wrack und tauge nicht für eure Arbeit.«
Michaelis riss sich zusammen. »Auch wenn es dir kein Trost ist: Gerade weil du ein Wrack bist, gibt es keinen Besseren als dich für diesen Job.«
7
Willytown. Was geht ab, Digga?
Der Weg von der S-Bahn zum Wohnblock, in dem Nicole lebte, war erfreulich menschenleer. Die Homeys stemmten um diese Zeit Gewichte oder übten hinter kahlen Kellermauern für eine Karriere als Gangsta-Rapper. Wind peitschte Regen in Lili Waans Gesicht. Die Lichter der Wilhelmsburger Wohnsiedlungen dienten ihr als einzige Orientierung. Obwohl Nicole nichts von einem Gespräch zwischen Lili und ihren Eltern hatte wissen wollen, ließ sich Lili nicht beirren. Sie musste das klären. Dass eine Vierzehnjährige offensichtlich regelmäßig Geschlechtsverkehr mit jemandem aus ihrem nahen Umfeld hatte, war nicht akzeptabel. Nicole hatte nicht verraten, um wen es sich dabei handelte.
Der Wohnblock endete irgendwo im schwarzen Nichts. Lili suchte vergebens nach dem Namen. Von den rund fünfzig Klingelschildern war die Mehrzahl eingedrückt, der Rest verbarg sich unter einer Schicht Sprühfarbe. Kurzerhand drückte sie die oberste Reihe durch. Keine Antwort. Dann die zweite Reihe.
»Zu wem willst du?«, fragte eine Stimme neben ihr.
Lili drehte sich um und sah ein Mädchen, vielleicht zwölf oder dreizehn, aus dem Dunkel des Dachvorsprungs treten. Es nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette.
»Nicole Stevens«, antwortete Lili.
»Hat sie was ausgefressen?«
»Nein, ich will mit ihren Eltern sprechen.«
»Bist du vom Jugendamt?«
»Ich bin ihre Lehrerin. Aber was machst du um diese Zeit hier draußen? Und außerdem: Bist du nicht noch etwas zu jung fürs Rauchen?«
»Meine Alten haben Stress. Wenn der Werbeblock vorbei ist, kehrt wieder Frieden ein. Und du? Bist ganz schön mutig. Alleine nachts in dieser Gegend.« Es schnippte die Kippe in den Regen.
»Wo kann ich Nicole finden?«
»Klingeln bringt nichts. Da macht niemand auf. Komm mit, ich zeig’s dir.«
Das Mädchen schloss die Tür auf und ging die Stufen hoch. Lili folgte ihm. »Den Aufzug kannste vergessen. Letzte Woche haben sie das Ding einfach abgefackelt.«
»Wie heißt du?«
»Lotte. Und du?«
»Lili.«
Sie traten in den ersten Stock. Aus einer der Türen klang der Gesang einer Frau aus dem Fernsehen.
»In den unteren Stockwerken wohnen nur Türken«, sagte Lotte. »Die Deutschen findest du weiter oben, auch ein paar Jugos und Albaner.«
Als sie endlich den neunten Stock erreicht
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