Weiss wie der Tod
Auftrag gegeben hatte. Auf Basis der Zeugenaussagen, der Gerichtsprotokolle und was sie sonst noch aus der Therapie Mandraks zusammentragen konnte, war die Rückfallwahrscheinlichkeit hoch. Es sei unverantwortlich, was hier geschehe. Die Weiße Lilie würde sich nicht damit zufriedengeben und jeden Schritt Mandraks überwachen. Schließlich rief sie die Zuschauer auf, sie bei ihrem Bemühen zu unterstützen.
Bevor der Clip zu Ende ging, schwenkte die Kamera zu den Menschen hinter dem Spruchband. Da war sie. Levy stoppte und fror das Bild ein.
Lange, gewellte rote Haare, Sommersprossen über den Wangen, älter als damals, gewiss, aber nicht persönlichkeitsfremd. Sie war eine zierliche Person geblieben und stand neben einem kräftigen Mann, der sie weit überragte. In seinen Augen konnte man Entschlossenheit erkennen. So auch in den Gesichtern der Umstehenden. Waren das die anderen Opfer Mandraks? Erwachsene Frauen, die mit ihren Ehemännern und Kindern zum Protest angetreten waren?
Und dann öffnete sich das Tor der Psychiatrischen Klinik in Hamburg-Ochsenzoll. Ein Auto kam heraus, die Demonstranten bewegten sich eilig in seine Richtung. Holger Mandrak wurde von Polizisten vor der Menschenmenge abgeschirmt und zu seiner neuen Arbeitsstelle gebracht. Der Wagen beschleunigte. Auf dem Rücksitz konnte man kurz ein Gesicht erahnen. Es schien zu lächeln, die ihm entgegengebrachte Aufmerksamkeit genießend.
Levy klickte sich durch die anderen Dateien. Sie wiederholten grob das eben Gesehene.
Was war da geschehen?, fragte er sich.
Da gab es die kurze, aber steile Medienkarriere einer mehrfach vergewaltigten Dreizehnjährigen und ihr Abtauchen in die öffentliche Bedeutungslosigkeit – das Beste, was ihr wahrscheinlich nach dem Erlebten widerfahren konnte. Darauf folgte eine Therapie, sofern die kurze Notiz der Wahrheit entsprach. Lilith hatte sie im Ausland durchgeführt, eine finanziell aufwendige Aktion. Wo hatte sie das Geld dafür her? Gab es Zuwendungen aus den Tagen ihrer Medienpräsenz? Schwere Traumatisierungen waren nicht in einer Wochenendsitzung zu bewältigen, so etwas erstreckte sich über Jahre.
Was war danach mit ihr passiert? Sie war älter geworden, hatte die Pubertät zu überstehen, immer im Widerstreit mit dem Erlebten und dem, was ihre neuen Freunde irgendwann von ihr wollten: Sex.
Unter normalen Umständen war es schon ein großer Sprung, sich vom Mädchen zur Frau zu entwickeln mit allen damit einhergehenden Änderungen. Wie hatte Lilith diese Phase gemeistert?
Sie war ein hübsches Mädchen gewesen, und der Videoaufnahme vor einem Jahr nach zu urteilen, hatte sich nicht viel daran geändert. Auffällig war vielleicht ihre körperliche Erscheinung. Eine Entwicklungs- und Reifeverzögerung nach massiver Traumatisierung konnte dafür verantwortlich sein, oder sie war einfach genetisch vorprogrammiert. Das konnte er an dieser Stelle nicht klären.
Was war ihre wahrscheinlichste Diagnose, fragte sich Levy, nach neun Wochen Vergewaltigung, Schlägen, Freiheitsentzug, Todesangst, Trennung von den Eltern?
Eine posttraumatische Belastungsstörung war anzunehmen. Sie würde von den Erinnerungen an die Folter, die Schmerzen, die Angst heimgesucht werden. Nicht bloße Erinnerungen, sondern massive und als lebensbedrohlich eingestufte Flashbacks, so, als würde sie in diesen Momenten erneut vergewaltigt, geschlagen, gedemütigt, ohne die Hoffnung, lebend aus dieser Hölle zu entkommen. Sie wird nach ihrem Vater, der Mutter geschrien haben, gefleht, sie zu retten, sie gegen den körperlich überlegenen und rohen Mann zu beschützen, doch am Ende würde sie einsehen müssen, dass niemand kommen würde, dass sie diesem Mann bis zu ihrem Lebensende hilflos ausgeliefert war. Eine grauenhafte Vorstellung. Und das bei der kindlichen Psyche einer Dreizehnjährigen.
Ein Teil ihrer Persönlichkeit hatte sich vermutlich abgespalten, und das während dieser neun Wochen. Wie sonst hätte sie diese endlos scheinende Zeit überstehen können?
Die Konfrontation mit dem Ereignis holte sie immer wieder ein, ließ sie in Panik geraten, bis sie alle Kräfte verloren hatte. Eine Gefühlslähmung hatte sich angeschlossen, dann die Ausklammerung des Bedrohlichen.
Sie könnte sich zu einer Borderlinerin entwickelt haben, ging es Levy durch den Kopf, sofern die Therapie dem nicht frühzeitig entgegenwirkte.
Wenn nicht, dann war sie in tiefe Depressionen gefallen, die früher oder später den aufkommenden Aggressionen den
Weitere Kostenlose Bücher