0084 - Das Buch der grausamen Träume
Irgendwo schrie ein Käuzchen.
Jammernd zitterte der Schrei durch die finstere Nacht und übertönte sogar das Klatschen der Wellen, die an der schlammigen Uferbank ausliefen und dabei Schlick und Sand aufwühlten.
Der Sumpf war nahe.
Man roch den Gestank von Fäulnis, der über dem Wasser schwebte und in seinem Geruch an alte Friedhöfe erinnerte, weil das Laub auf den zahlreichen Gräbern langsam zu Humus wurde.
Der Kauz schrie weiter.
Es schien, als wüßte das Tier, daß irgend etwas nicht stimmte.
Vielleicht ahnte es auch, daß ein Mann unterwegs war, um ein schreckliches Verbrechen zu begehen.
Einen Mord, zum Beispiel!
Ja, Leo Genn war unterwegs, um jemanden zu töten.
Er hockte in einem Boot, das in seiner primitiven Form an einen Nachen erinnerte. Es war unförmig und nur schwer zu bewegen.
Dafür, daß es überhaupt von der Stelle kam, sorgte der Mann mit seiner Muskelkraft und einer langen Holzstange, die er in regelmäßigen Abständen in das schmutzige Wasser des Flußlaufes eintauchte.
Das Wasser gurgelte und schmatzte. Jetzt in der Nacht sah es schwarz aus und irgendwie gefährlich. Das hohe Gras, die Büsche und Sträucher an den Ufern wirkten wie gespenstische Gebilde aus einer anderen Welt. Sie waren im Laufe der Jahre größer und breiter geworden. Manchmal zu Auswüchsen herangewachsen.
Sie griffen mit ihren Zweigen über das Wasser, als wollten sie die Gegenstände aufhalten, die hin und wieder über die gurgelnde Oberfläche getragen wurden.
Es lebten nur wenige Menschen in dieser sumpfigen Gegend. Sie arbeiteten alle als Torfstecher und verdienten mehr schlecht als recht ihren Lebensunterhalt.
Und noch jemand wohnte ganz in der Nähe.
Der alte McKenzie!
Gerald McKenzie, der sein Geheimnis schon seit vielen Jahren hütete. Er behielt es für sich, weil er wußte, welche Gefahren dieses Buch barg.
Wer es las, wurde entweder wahnsinnig oder zu einem Diener der Finsternis. Beides war schlimm.
Aus diesem Grunde hütete McKenzie sein Geheimnis so sehr. Aber Leo Genn hatte es trotzdem erfahren. Bei einer spiritistischen Sitzung hatte er den Ort herausgefunden. Irgend jemand aus dem Reich der Finsternis wollte, daß das Buch in andere Hände gelangte, und hatte sein Zeichen gesetzt. Blutrot war plötzlich mitten in der Luft ein Name erschienen. Dorset!
Dann war der Name wieder verschwunden. Statt dessen war ein anderer aufgetaucht. Gerald McKenzie. Dorset und Gerald McKenzie!
Zwei Begriffe. Einmal der Name einer Provinz und dann dieser McKenzie.
Wer hieß so? Tausende bestimmt. Aber Leo Genn hatte Ehrgeiz. Und Zeit. Er arbeitete nicht mehr, lebte von einem Toto-Gewinn, der ihn zu einem reichen Mann gemacht hatte. Und Leo Genn forschte nach.
In alten Büchereien, in verstaubten Archiven. Nicht nur in England, er fuhr sogar auf den Kontinent und nach Ägypten. In der uralten Bibliothek von Kairo suchte er. Er fand Hinweise, hier einen kleinen Ratschlag, da einen Tip. Das Geheimnis des Buches war zwar damit nicht gelüftet, aber die Spur verdichtete sich. Und sie führte in die Provinz Dorset. Hier sollte es zu finden sein.
Das Buch der grausamen Träume. So war es genannt worden. Aber davon ließ sich Leo Genn nicht abschrecken. Er wollte das Buch haben, und er würde es finden. Lange genug hatte die Sucherei schließlich gedauert.
Jetzt stand er dicht vor seinem Ziel.
Leo Genn hatte in Erfahrung gebracht, wo Gerald McKenzie wohnte. Am Fluß in einer Hütte. Nicht weit von ihm entfernt lag das kleine Dorf Horlin. Ein gottverlassener Ort inmitten einer Sumpfgegend, in der die Menschen so waren, wie die Natur sie geformt hatte. Schweigsam, verschlossen. Sie lebten mit dem Sumpf, er ernährte sie, denn einmal in der Woche kam die Bahn und transportierte die gestochenen Torfballen weg.
Mit einer monotonen Gleichmäßigkeit tauchte Leo Genn die Ruderstange in das trübe Wasser. Auf dem Grund wühlte er Schlamm und Schlick auf, die der Oberfläche entgegentrieben und das Wasser noch dunkler färbten.
Das Gestrüpp am Ufer wurde lichter. Jetzt wuchsen Erlen und sogar verkrüppelte Pappeln bis dicht an das Wasser heran. Leo Genn mußte in der Mitte des Flusses fahren, weil die tiefhängenden Zweige ihm oftmals den Weg versperrten. Hier war die Strömung etwas stärker. Zudem führte der Fluß viel Wasser.
Es hatte in der letzten Zeit stark geregnet. Die Vorboten der Herbststürme waren über das Land gefegt und hatten die ersten Bäume entlaubt.
Auch wurden die Nächte jetzt kühler.
Weitere Kostenlose Bücher