Weiße Nächte, weites Land
einer Glasglocke. Die Luft schien stillzustehen, kein Geräusch nahmen sie wahr, nicht das Scherenratschen, Sticheln und Seidenrascheln der Näherinnen, nicht das Plappern der Kundinnen im Vorraum.
Christina hatte Mühe zu atmen und sog die Luft tief in die Brust, als drohte sie zu ersticken. »Was … was denkst du dir bloß?«, presste sie mühsam hervor.
Alexandra beugte sich wieder vor, stützte die Hände auf den Tisch und sah sie an.
Einen Moment lang meinte Christina, in Alexandras Blick das Flehen ihrer Kindheit zu erkennen, aber einen Wimpernschlag später wirkte das Weiß ihrer Augen wie verharschter Schnee.
»Was ich mir denke? Das fragst gerade du mich, Mutter? Weißt du es nicht von allen am besten? Wenn ich eines von dir gelernt habe, dann dieses: Nur wer den Mut hat zu träumen, hat auch die Kraft zu kämpfen.«
Epilog
1797 in der wolgadeutschen Kolonie Waidbach
E igenartig, dass sie nie etwas gemerkt hatte. Sonst entging Eleonora nichts, was ihre Söhne Stephan und Justus betraf. Sie wusste, dass Stephan sich von frühester Jugend an für die Landwirtschaft interessierte, und verstand nur zu gut, dass es ihn immer wieder nach Waidbach zu den Deutschen zog, wo er mit Eifer den Umgang mit dem Pflug und das Dreschen des Weizens lernte.
Matthias blickte nicht ohne Stolz auf seinen älteren Sohn, aber nicht weniger zufrieden war er mit dem jüngeren Justus, der sich zum unentbehrlichen Assistenten in seiner Manufaktur gemausert hatte und ihn eines nicht allzu fernen Tages in der kaufmännischen Leitung ablösen würde.
Aber dass Stephan sich in die Waidbacherin Charlotte verliebt hatte, war Eleonora tatsächlich entgangen. Im Spätsommer hatten zwar zwei der Damen aus dem Saratower Leseklub, den Eleonora im regelmäßigen Turnus in ihre liebevoll gepflegte Bibliothek einlud, geheimnisvoll von Hochzeitsglocken gemunkelt, die sicher bald im Hause Lorenz läuten würden, doch als Stephan im Herbst verkündete, er werde im Frühjahr die junge Frau zum Traualtar führen, war Eleonora aus allen Wolken gefallen. Schließlich hatte sie ihn umarmt, ihren ältesten Sohn mit den kastanienbraunen Haaren und den Brombeeraugen, und sich gefreut, dass wenigstens eines ihrer Kinder die nachfolgende Generation in der deutschen Kolonie verstärken würde.
Sie gehörten doch dorthin, obwohl sich die Familie ihre Existenz in Saratow aufgebaut hatte.
Auf dem Fest spielten die Musiker unablässig, der Wodka floss in Strömen, und auf der aus Holzplanken errichteten Tanzfläche mitten auf dem Dorfplatz wirbelten und hüpften die jungen Leute im Polkatakt, wenn sie nicht klatschend Kreise um das Brautpaar bildeten.
Die Alten saßen an einer langen, mit Tulpen und Ginsterzweigen geschmückten Tafel unter den Linden, der Duft nach gebratenen Spanferkeln zog über sie hinweg.
Eleonora bemühte sich, das leichte Unbehagen inmitten der dörflichen Gemeinschaft abzuschütteln. Ihr von silbernen Strähnen durchzogenes dunkles Haar war eine Spur sorgfältiger frisiert und ihr Kleid eleganter als die buntbestickte leinene Tracht der Bäuerinnen.
Aber das waren doch nur Äußerlichkeiten …
In ihrem Herzen fühlte sie sich Bernhard und Anja, die ihr gegenübersaßen und sich genau wie Matthias und sie an den Händen hielten, näher als den meisten ihrer Freunde in Saratow.
Schade nur, dass Franz die guten Jahre nicht mehr miterlebte. Ihn hatten sie vor zehn Jahren hinter seiner Viehhütte begraben – einen einsamen Mann mit schlohweißen Haaren und wirren Gedanken, der sich, wie es schien, am Leben verhoben hatte.
Auch Helmine Röhrich fehlte an der Festtafel. Sie mied jede Feier, als befürchtete sie, Ausgelassenheit und Tanz passten nicht zu dem Bild der hartgesottenen Kauffrau, das sie seit vielen Jahren den Dörflern präsentierte. Die Produktion von Seide auf ihrer Maulbeerplantage war zu ihrem Lebensinhalt geworden.
Bernhard und Anja gehörten zu den wenigen Kolonisten, deren Ehe kinderlos geblieben war. Ob gewollt oder nicht gewollt, wusste Eleonora nicht, aber sie erinnerte sich an die Trauer in Anjas Miene, als sie ihren treuen vierbeinigen Gefährten Lambert beerdigt hatten. Gewiss hätte sie gerne jemanden gehabt, um den sie sich kümmern konnte. Aber dafür hatte sie gemeinsam mit ihrem Mann ihre ganze Kraft in den Aufbau und das Gedeihen des Dorfes gesteckt – ein gewiss nicht weniger bedeutsamer Lebenssinn als die Erziehung der nächsten Generation.
Klara und Sebastian dagegen hatten seit ihrer
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