Weiße Nächte, weites Land
erreicht. Die Sehnsucht nach ihr hat mir, was keiner von euch weiß, in mancher Nacht den Schlaf geraubt. Ich denke, ich habe ein Recht darauf, ihr nach all den Jahren gegenüberzutreten und sie so in die Arme zu nehmen, wie ihr, Sophia und Tante Eleonora, euch herzt. Und sei alles auch nur für einen kurzen Besuch.« Sie tupfte sich mit dem Zeigefinger die Augenwinkel, als hielte sie Tränen zurück, reckte das Kinn. »Hat irgendjemand etwas dagegen einzuwenden?«
43. Kapitel
Juni 1780, Sankt Petersburg
K urz vor Mitternacht schloss Christina das geschmiedete Tor vor dem Eingangsbereich des Modehauses Haber und drehte klirrend den Schlüssel. Aus Gewohnheit rüttelte sie kurz an den Eisenstäben, um zu prüfen, ob es wirklich zugesperrt war.
Dabei kam es hier am Newski-Prospekt kaum jemals zu Einbrüchen, obwohl in der Nachbarschaft Juweliere und Hutmacher, Seidenstrumpfboutiquen und französische Schuhmacher ihre Waren in den Schaufenstern auslegten, die das Begehren aller Passanten weckten.
Die Prachtmeile der Stadt war zu jeder Tages- und Nachtzeit ein lebhafter Ort. Nun, während der Weißen Nächte, zogen Menschen schunkelnd durch die Straße, Kutschen ratterten vorbei, aus offenen Fenstern drangen Musik und fröhliches Gelächter. Allerorten wurde gefeiert und getrunken, gesungen und getanzt.
Christina überlegte, ob sie sich an diesem Abend noch herausputzen sollte, um den Ball des Fürsten Damischkow zu besuchen, der zu den herausragenden gesellschaftlichen Ereignissen während der Weißen Nächte gehörte.
Sie hätte auch die Kutsche nehmen und sich zu ihrem Landsitz bringen lassen können, wo ihr Mann André ein paar Freunde zum Bankett geladen hatte. Aber danach stand ihr gar nicht der Sinn.
Nicht nur, dass sie Andrés Freunde zum Sterben langweilig fand – mit ihrem Mann ging es ihr nicht anders. Immer die gleichen Geschichten, immer die gleichen Scherze; seit Jahren musste Christina ein Gähnen unterdrücken, wann immer sie längere Zeit in Gesellschaft ihres Mannes verbrachte. Sie versuchte es so einzurichten, dass sie sich möglichst aus dem Weg gingen, was ihr im Allgemeinen keine Schwierigkeiten bereitete. André schätzte ihr Engagement für das Modehaus in höchstem Maße und versicherte ihr bei jeder Gelegenheit, dass das Geschäft nur durch sie zu dieser Blüte gekommen war.
Es erfüllte Christina mit tiefer Befriedigung, dass sie es tatsächlich geschafft hatte, als Seidenmodehändlerin in der russischen Hauptstadt den besten Ruf zu genießen. Sie überwachte nicht nur die Einfuhr von Seidenstoffen für die Zuliefererbetriebe, sie legte auch letzte Hand an die Entwürfe der Modeschöpferinnen an. Alles in ihrem Geschäft – vom Ausgangsmaterial bis zur letzten Stickerei an den Roben – trug ihre Handschrift. Ihr eigener Qualitätsanspruch war zum Markenzeichen der Firma geworden. Ein Abstecher in das Modegeschäft Haber gehörte zum Pflichtprogramm aller französischen, italienischen und deutschen Damen, die ihre Männer auf Handelsreisen nach Petersburg begleiteten.
Ein Lächeln legte sich auf Christinas Züge, als sie nun das große, hinten spitz zulaufende Seidentuch um ihre nackten Schultern drapierte und sich auf den Weg in ihre Stadtwohnung begab, die nur wenige Gehminuten vom Laden entfernt lag.
Sie war sich ihres guten Rufes in den besten Kreisen Petersburgs bewusst – nur Felicitas Haber wünschte sie gewiss in die Hölle oder zumindest in die Kolonie zurück.
Es hatte Christina keine Schwierigkeiten bereitet, André davon zu überzeugen, dass sie als Geschäftsfrau an seiner Seite besser sein würde als seine hochnäsige, kaltherzige Schwester. Gleich nach ihrer Hochzeit hatte André seiner Schwester erklärt, dass er auf ihre Mitarbeit verzichten wolle. Obwohl Felicitas Zeter und Mordio schrie und durch allerlei juristische Winkelzüge die Entscheidung anzufechten versuchte, musste sie sich letzten Endes fügen.
Dass sie nicht untätig die Hände in den Schoß legen würde, hatte Christina gleich vermutet, aber die Konkurrenz, die Felicitas den Habers mit einer eigenen Seidenboutique zu machen versuchte, war bedeutungslos. Gegen das Traditionshaus hatte die ungeliebte Schwester mit ihren verbissenen Versuchen, wieder Fuß zu fassen in der Petersburger Handelswelt, keine Chance.
Andrés Liebe zu Christina hatte sich im Lauf der Jahre abgekühlt. War er zunächst ergeben wie ein Schoßhund, so holte er sich inzwischen die Leidenschaft, die Christina vermissen
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