Weiße Nächte, weites Land
Die größte Gruppe davon, über 26000 Kolonisten, wurde in die Gegend um Saratow geschickt. Auf der beschwerlichen Reise dorthin starben mehr als 3000 Menschen, so dass sich schließlich rund 23000 Bewohner in den 104 Kolonien niederließen, die zwischen 1764 und 1771 an der mittleren Wolga gegründet wurden.
Soziale Unzufriedenheit und drückende wirtschaftliche Not waren die häufigsten Beweggründe für die Deutschen, die Heimat zu verlassen. Sie folgten der Einladung der Zarin Katharina II., die in ihrem Manifest vom 22. Juli 1763 allen Einreisewilligen Befreiung von Abgaben und Diensten versprochen hatte, außerdem Religionsfreiheit, persönliche Unabhängigkeit, großzügige Kredite und Land.
Für die Kaiserin verbanden sich in diesem Angebot agrarpolitische Überlegungen mit militärpolitischem Kalkül: Die meist nur dünn mit Kosakendörfern besiedelten Grenzgebiete sollten bevölkert werden, um Übergriffe nomadisierender Steppenvölker abzuwehren.
Erst bei der Ankunft wurde vielen klar, dass sie nicht mehr zu der Sorte von Einwanderern gehören sollten, die sich die Zaren in den Jahrhunderten zuvor ins Land geholt hatten. Weder durften die Handwerker unter ihnen ihren erlernten Berufen in den Städten nachgehen, noch durften die Bauern sich selbst den Flecken Erde wählen, an dem sie sich niederließen.
Bei der Gestaltung meiner Figuren habe ich mir die dichterische Freiheit genommen, einzelne Personen wie Matthias und Christina außerhalb der Kolonie Karriere machen zu lassen. Dass es Kolonisten gab, die die vorgeschriebenen Wege mutig verließen und am russischen Hof ihr Glück versuchten oder als Kaufleute die Erfolgsleiter erklommen, wie in meinem Roman beschrieben, ist explizit in den Quellen nicht geschildert – für mich aber durchaus vorstellbar.
Trotz aller Schwierigkeiten machten die Siedler im Wolga-Gebiet Fortschritte. Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts erreichten sie einen bescheidenen Wohlstand. Die Ernten wurden besser, und die Bevölkerungszahl stieg um ein Vielfaches an.
Die wechselvolle Geschichte der Kolonien nach 1800 habe ich bewusst ausgeklammert. Sie bietet hinreichend dramatischen Stoff für weitere Romane um die Russlanddeutschen.
Neben den historischen Persönlichkeiten wie Katharina II., ihrem Liebhaber und Offizier der Armee Grigorij Grigorjewitsch Orlow und dem Rebellenführer Jemeljan Iwanowitsch Pugatschow tauchen in meinem Roman weitere Figuren der Geschichte auf, die geringeren Bekanntheitsgrad haben: Johann Facius vom kaiserlich russischen Kommissariats in Büdingen, der Kaufmann Christian Heinrich Schmidt, der 1766 den Schiffstransport über die Ostsee organisierte, oder auch der trinkfreudige Schwede Nieberg, der mit Ketten an seinen Schreibtisch in der Saratower Kanzlei gebunden wurde, um ihn im Dienst zu halten.
Die von der Herrnhuter Brüdergemeinde 1765 gegründete Kolonie Sarepta entwickelte sich, wie im Roman beschrieben, als Musterbeispiel eines blühenden Ortes an der Wolga. Sie lag tatsächlich jedoch 400 Kilometer von den anderen Kolonien entfernt. Für den Roman habe ich mir erlaubt, sie auf zwei Tagesreisen an die fiktive Kolonie Waidbach heranzurücken.
Bei meinen Recherchen bin ich in Bibliotheken und im Internet auf viele detailreiche Quellen gestoßen, die mir Hilfe und Inspiration waren. Hervorzuheben sind hier die Website www.russlanddeutschegeschichte.de und die Bände »Büdingen als Sammelplatz der Auswanderung an die Wolga 1766« von Klaus Peter Decker (bearbeitet und herausgegeben von der Geschichtswerkstatt Büdingen 2009) sowie »Der russische Kolonist« von Christian Gottlob Züge (Edition Temmen 1992). Der Autor des letztgenannten Buches, ein Zeitzeuge, hat mich mit seinem Humor, seiner Neugier und der detailreichen Schilderung seiner Einreise nach Russland so beeindruckt, dass ich mir erlaubt habe, der fiktiven Figur Daniel Meister in meinem Roman einige Charaktereigenschaften und Erlebnisse Züges zuzuschreiben. Wer sich für die Geschichte der Deutschen in Russland im 18. Jahrhundert interessiert, sollte bei seinen Recherchen mit diesem trotz aller Dramatik auch vergnüglichen Reisebericht von Christian Gottlob Züge beginnen.
Martina Sahler im November 2011
Die Autorin dankt
den freundlichen Bibliothekarinnen der Bücherei in Kürten, die keine Mühen gescheut haben, mir Sekundärliteratur aus entlegenen Winkeln zu besorgen, und mich zum Thema Literatur über Russland engagiert beraten haben,
meinem
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