Weiße Nächte, weites Land
Laune und in Plauderstimmung zu halten, wusste Nikolaj. Die Zarin mochte es, ihre Untergebenen über ihre Wohltaten zu unterrichten. Kritische Betrachtungen verkniff man sich lieber, solange man nicht zu dem handverlesenen Kreis ihrer persönlichen Berater gehörte. Davon war der junge Gardeoffizier weit entfernt.
Dass ihn die Zarin in seinem Urteilsvermögen unterschätzte, nahm Nikolaj ohne die geringste Gefühlsregung hin. Sein Ehrgeiz lag nicht darin, die Zarin durch scharfsinnigen, analytischen Verstand zu beeindrucken.
»Nun, das liegt doch auf der Hand, Koletschka.« Sie kam näher und ließ sich neben ihm auf dem Bett nieder, strich mit einem Finger über seine Brust bis zum Schlüsselbein und den Arm hinab. »Der Fleiß der Deutschen ist sprichwörtlich – sie werden nicht mal eine Generation benötigen, um an der Wolga einen wichtigen Stützpunkt für den Handel mit dem Orient, vor allem mit Persien, zu schaffen. Die Bauern unter ihnen werden das Land im Süden urbar machen, sie werden sich vermehren, ihre Dörfer vergrößern, zu Städten anwachsen lassen und so innerhalb kürzester Zeit ein Bollwerk gegen die Steppenvölker bilden, die seit Jahrzehnten mit ihren Angriffen genau da für Unruhe sorgen, wo ich über wenig Handhabe verfüge.«
»Russland ist groß, und die Zarin ist weit«, murmelte Nikolaj zum Zeichen, dass er sie verstanden hatte.
»Genau das meine ich.« Katharina nickte mit einem Lächeln. »Im Gegenzug erhalten die Kolonisten ihr eigenes Land und zinslose Kredite für alle Anschaffungen, die sie zur Errichtung ihrer bäuerlichen Betriebe benötigen. Sie brauchen nicht zum Militär, dürfen ihre Religion frei ausüben – alles Vergünstigungen, die ihnen in ihrem eigenen Land verwehrt bleiben. Insofern – ja, vielleicht ist es für manch einen tatsächlich der Himmel auf Erden, was ich ihnen biete.« Wieder lächelte sie. »Es beglückt mich, wenn meine Landsleute meiner Einladung folgen. Ich mag sie gern hier haben, die Deutschen. Sie werden unserem Land Gutes tun. Wir werden sie mit Samthandschuhen anfassen, damit sie sich hier wohl fühlen.«
Nikolaj nahm einen weiteren Schluck Champagner. Die Zarin hatte sich in eine leidenschaftliche Rede hineingesteigert – die Besiedlungspolitik gehörte zu ihren Lieblingsthemen, wie er wusste. Aber es war unverkennbar, dass sie nicht deshalb mit ihm sprach, weil ihr auch nur ein Deut an seinem Urteil lag. Längst hatte sie ihre Entscheidungen gefällt, ihr Manifest, das Einreisewillige aus den deutschen Fürstentümern nach Russland einlud, wurde in allen Städten und auf den Dörfern verteilt und fand ein gewaltiges Echo, das noch nicht verklungen war. Bei der Festung Kronstadt standen die Soldaten bereit, um die Schiffe aus Lübeck mit den Emigranten in Empfang zu nehmen und die Weiterreise an die Wolga zu organisieren.
Der Plan der Kaiserin ging auf: Die wirtschaftliche Not zwang die deutschen Bauern in die Knie, die sozialen Bedingungen nach dem Siebenjährigen Krieg verschlechterten sich ins Unerträgliche. Das Verlassen der Heimat bereitete ihnen keinen Schmerz, sondern erfüllte sie mit frischem Mut.
Wie verlockend erschien es, ein neues, sorgenfreies Leben im sagenumwobenen Russland zu beginnen, für dreißig Jahre befreit von allen Abgaben und Diensten, mit freiem Schiffstransport und Kostgeld … Nikolaj verstand, was die Menschen antrieb, die in diesen Tagen mit all ihren Habseligkeiten in Bündeln und mit großer Hoffnung im Herzen bei Kronstadt an Land gingen.
Doch konnte die Kaiserin ihre Versprechungen halten? Konnte sie die Lage weit im Süden des Landes an der unteren Wolga kontrollieren, wie sie es plante? Nikolaj bezweifelte es, aber er schwieg.
Die Hand der Kaiserin wanderte von seiner Schulter zu seinem Gesicht, wo sie mit dem Daumen zart über Nasenwurzel und Brauen strich, als wollte sie eine Falte glätten. »Du verstehst das nicht, Kolja, und das brauchst du auch nicht. Vertrau deiner Kaiserin«, flüsterte sie, als hätte er es tatsächlich gewagt, Einwände vorzubringen.
Nikolaj wusste, welche Rolle ihm in dieser Weißen Nacht in Zarskoje Selo zugedacht war, und er beabsichtigte nicht, sie abzustreifen. Ganz im Gegenteil hegte er die nicht unberechtigte Hoffnung, dass ihr nächtliches Rendezvous in nicht allzu ferner Zukunft eine Wiederholung finden könnte. Nikolaj strebte als einer der Liebhaber der russischen Zarin weder Exklusivität an noch eine Sonderstellung als innenpolitischer Ratgeber. Ihm
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