Weit weg ... nach Hause
die Tür ihres Zimmers aufgestoßen. Luisa zuckt zusammen, bedeckt das Heft mit den Händen und dreht es
blitzschnell um.
»Wetten, du hast nichts gerechnet?«, sagt Carlo und spinkst neugierig auf den Schreibtisch.
»Das geht dich nichts an. Oder bist du neuerdings Muttis Aufpasser?«
»Wenn du fertig bist, sollst du einkaufen gehen:Kartoffeln und Eier. Mama schafft das nicht, sie hat gerade noch mal angerufen. Und dann sollst du für Papa und mich Abendessen
machen.«
»Du lügst doch, du Blödmann. Mama weiß genau, dass ich nicht kochen kann.«
»Klar, das kannst du eben auch nicht. Du sollst es aber endlich mal versuchen.«
»Du lügst. Du lügst. Du lügst«, schreit Luisa den Bruder aus ihrem Zimmer.
Den Kopf mit gespielter Furcht zwischen die Schultern gezogen, schleicht er auf den Flur.
Mit Karacho knallt die Tür wieder ins Schloss und der Schlüssel fällt zu Boden. Luisa steckt ihn in die Tasche. Sie wird ab
sofort ihr Zimmer abschließen. Carlo soll ihre Bilder nicht sehen, Carlo soll überhaupt nicht wissen, dass sie sich mit ihren
Bildern für einen Kurs beworben hat, Carlo soll gar nichts wissen von ihrem Leben. Sie zieht Jeans und Pullover an, dann steigt
sie in ihre Stiefel.
»Kartoffeln und Eier«, murmelt sie, »echt mal ganz das kreative Abendessen.«
Gleich nach Nudeln mit Tomatensoße sind Kartoffeln mit Eiern in verschiedenen Formen und Bratzuständen das ständige Essen
der Familie. Luisa schüttelt sich bei dem Gedanken an das langweilige Einerlei. Zum Glück kann sie alles beiHerrn Borga gegenüber kaufen, so dass sie in der Kälte nicht weit laufen muss. Sie könnte noch am Kiosk vorbeigehen: Vielleicht
bedient heute Ibrahim und sie kann seinen Hund begrüßen, den mag sie sehr. Ein kleiner Terrier, das ist Luisas größter Traum.
Bald hat sie Geburtstag, sie wird ihn noch mal oben auf die Wunschliste schreiben. Mit einer Spezialbemerkung: Dass sie ihn
ganz bestimmt immer in den Park führen wird. Jeden Tag dreimal. Nur sie allein.
Schokoladenkuchen und ein schöner Traum
Tage vergehen und Luisa wartet sehnsüchtig auf Post. Jedes Mal, wenn sie aus der Schule kommt, schaut sie als Erstes hoffnungsvoll
auf die Kommode im Flur. Hier liegen Briefe und Päckchen, Zeitungen und Zettel mit Notizen. Vielleicht hat das Museum ja bereits
angerufen und die Eltern oder Carlo haben vergessen, ihr einen Zettel zu schreiben. Ihr könnte das durchaus passieren!
Die Aufnahme in den Zeichenkurs, das ist zur Zeit für sie das Wichtigste überhaupt. Es dauert noch fünf Wochen, bis die Osterferien
beginnen, aber Luisa kann die Spannung kaum aushalten: Wann erfährt sie endlich, ob sie angenommen wurde? Sie musste eine
Mappe mit Zeichnungen einreichen. Obwohl es ein Übungskurs für Jugendlicheund Erwachsene ist, wird nach Talent ausgewählt. Geleitet wird der zehntägige Kurs von einem bekannten Comiczeichner, Luisa
findet den Maler »den Wahnsinn« und möchte zeichnen können, wie er und nichts anderes mehr in ihrem Leben machen. Für den
Kurs müsste sie jeden Morgen mit Bahn und Bus dreißig Kilometer weit fahren, zu einem Museum in einem kleinen Dorf, weit außerhalb
der Stadt. Aber der Weg ist ihr egal, das macht ihr nichts aus, sie würde auch zu Fuß laufen. Hauptsache, sie wird angenommen.
Hauptsache, ihre Mappe überzeugt. Dass sie eventuell zu jung sein könnte, daran dachte sie beim Wegschicken der Unterlagen
nicht mal eine Sekunde.
»He, Gott«, sagt Luisa schmunzelnd zur Zimmerdecke: »Du solltest mal ein bisschen gerecht sein. Ich hab ’ne echt anstrengende
Familie, die mich nicht versteht. Habe keine richtige Freundin und oft Pech, also lass mich wenigstens beim Zeichenkurs dabei
sein. Mehr verlang ich gar nicht!«
Seitdem ihre Oma gestorben ist, denkt Luisa öfter über Gott nach. Luisas Familie ist nicht religiös und deshalb wurde sie
auch nicht getauft. Nur am Heiligen Abend gehen sie alle zusammen in die Kirche und natürlich – eher selten – bei Beerdigungen.Aber Luisa kann sich nicht vorstellen, dass es die Oma nicht mehr gibt, dass sie sich einfach in Luft aufgelöst hat. Und sie
will es vor allem nicht glauben. Der Gedanke, sie sei im Himmel und schaue hin und wieder zu ihr hinunter, tröstet sie. Deshalb
hat sie sich angewöhnt, öfter mal zu einem zu sprechen, der irgendwo über ihr im Universum herumschwirrt. Manchmal nennt sie
ihn »Gott«, manchmal »Dudaoben«, auf jeden Fall gibt es für sie jemanden, den sie
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