Weit weg ... nach Hause
Kopf. »Schlag mich nicht! Bitte! Hab Erbarmen!
Ich bin dein kleiner Bruder.«
»Hau ab!«, brüllt Luisa und schubst ihn aus ihrem Zimmer.
Carlo guckt überlegen auf seine Schwester hinunter: »Weißt du, was dein großes Glück ist? Dich könnte niemand bestrafen, wenn
du mal was anstellst, weil du nämlich nicht normal bist. Du hast ’ne Macke. Und irgendwann landest du bestimmt in der Klapse.«
Luisa steht wie versteinert im Türrahmen. Dann presst sie die Hände auf die Ohren, dreht sich um und tritt mit dem Fuß die
Tür zu. Mit einem heftigen Knall fällt sie ins Schloss. Sie wirft sich aufs Bett und drückt das heiße Gesicht ins Kissen:
»Warum? Warum? Warum?«, flüstert sie leise.
Carlos Worte hacken wie hungrige Krähen in ihr Herz: »’ne Macke – nicht normal«, hallt es durch ihren Kopf.
»Ich will aber normal sein. Total normal!«
Auch diesmal kommen die Tränen nicht.
Hat Carlo recht? Ist sie nicht normal? Sehen die anderen sie auch so? Wie eine »Unnormale«? Ein Alien? Es muss schließlich
einen Grund geben, warum kein Mädchen mit ihr befreundet sein will. Dabei wünscht sie sich nichts sehnlicher: eine Freundin,
mit der sie über alles reden kann, vor allem natürlich über beknackte Brüder.
Nathalie würde sie vielleicht verstehen. Nathalie war noch nie eingeschnappt, wenn Luisa malder Ton verrutscht ist oder sie eine Beleidigung losgelassen hat. Nathalie war immer ziemlich nett. Und vor allem hat sie
mit den Jungen aus der Klasse nichts zu tun. Was die reden, interessiert sie gar nicht. Selbstbewusst macht sie immer, was
sie will. Luisa beneidet Nathalie.
Ich werde sie anrufen, denkt Luisa. Ich werde ihr von mir erzählen. Und dann werden wir Freundinnen. Und ich werde mich ändern.
Alles wird sich ändern, vielleicht schaffe ich es, nicht mehr so viel zu vergessen.
Luisa greift entschlossen zu ihrem Mobiltelefon, wählt Nathalies Nummer. Niemand da! Sie beschließt, es später zu versuchen.
Ich darf nur nicht den Mut verlieren, denkt sie.
Luisa steht auf und geht zum Fenster. Auf der anderen Straßenseite steht eine neue Litfasssäule. Das Plakat zeigt eine blonde,
schlanke Frau mit einem Käseknäckebrot in der Hand: »Ich will so bleiben, wie ich bin«, strahlt die Blonde in ihr Zimmer.
»Angst vor Minispeckrollen«, murmelt Luisa. »Echt geiles Problem. Ich will nicht so bleiben, wie ich bin. Ich will endlich
mal alles richtig machen, mich gut und mutig fühlen. Nichts vergessen und nichts verschütten. Ich will mich ändern!«
Luisa lächelt, noch nie war sie so entschlossen.
Mittlerweile ist alles, Bäume, Autos, Dächer, gepudert wie Omas einzigartiger Schokoladenkuchen. Schön sieht das aus!
»Mathe!«, zuckt sie erschrocken zusammen. Wie kurz so ein Glücksgefühl ist! Schnell setzt sie sich an den Schreibtisch und
sucht im Buch die Übungslektionen.
»69 mal 69?«, flüstert Luisa, kaut auf ihrem Bleistift und betrachtet die beiden Zahlenpaare. In der Grundschule hat sie sich
die Zahlen immer als Figuren in einem Theaterstück vorgestellt. Da stehen die Neuner dann wie dicke, alte Männer mit einer
Zigarre im Mund vor den runden Frauen, den Sechsern, die in wallenden Röcken einen unbeholfenen Knicks machen.
Aus den Zahlen zeichnet Luisa zwei tanzende Paare, die sich zu Achtern verbinden und müde zur Seite kippen. Nun sehen sie
aus wie ein Fernglas und damit kann man bis in die Unendlichkeit blicken. Und die Unendlichkeit, das ist für Luisa dort, wo
der Wellenschlag des Meeres sanft türkisfarbenes Wasser an einen weißen Sandstrand spült, weiß wie Sahnefüllungen in Windbeuteln
oder wie die Zähne von Vitali Klitschko.
Statt der Rechenlösungen entsteht ein Boot inihrem Matheheft. Kein einfaches Holzboot, sondern ein prächtiger Katamaran. Ein schwarzer Terrier springt freudig an der Reling
hoch und bellt die Möwen an. Die Segel des Katamarans liegen zusammengerollt unter der Persenning. Lianen und Blumengirlanden
schmücken die Bordwand. Auf der Flagge prangt ein vierblättriges Kleeblatt. Ein Mädchen mit kurzen Hosen, Segelschuhen und
geflochtenen Zöpfen sitzt auf einem Rumpfkörper. Sie schaut aufs Meer hinaus, in der Hand silberne Fische, mit denen sie zwei
Delfine füttert, die längs der Bordwand schwimmen und das Schiff begleiten.
Seile, Luken, Schrauben, Klemmen – nichts hat Luisa vergessen.
Der Name des Schiffes, in feinen Buchstaben auf den Bug gemalt, lautet: GLÜCKSKLEE.
Mit einem Ruck wird
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