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Weit weg ... nach Hause

Titel: Weit weg ... nach Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ihr das Hemd aus der Hose rutscht,
     wenn sie aufzeigt!«
    »Die hat doch bestimmt gar kein Hemd an!«, ruft Michael. »Das hat sie nämlich zu Hause vergessen«, und er lacht, bis ihm die
     Tränen in die Augen schießen.
    Der ganze Jungentisch bricht fast zusammen.
    Luisas Augen funkeln vor Zorn: »Idiot, du blöder! Ein Unterhemd verdeckt doch mein Bauchnabelpiercing.«
    Das saß! Die Jungen sind sprachlos. Auch die Mädchen schauen überrascht, von Frau Thiele mal ganz zu schweigen, die kurz vor
     einer Ohnmacht steht. ›Bauchnabelpiercing‹, schon das Wort bereitet Luisa Übelkeit. Sollen sie es doch alle glauben, wenn
     sie wollen. Der Schockminute folgtwildes Spekulieren und neugieriges Getuschel. »He, so eine bist du!« – »Zeig doch mal!« – »Was ist es denn, ein Knopf?« –
     »Oder ein Ring?«
    »Lasst mich endlich in Ruhe!«, sagt sie und ihre Stimme zittert plötzlich.
    Nicht heulen! Nicht vor der ganzen Klasse! Sie spürt wieder das Flackern ihrer Augenlider. Ihr Blick springt von einem Mitschüler
     zum nächsten, von schadenfrohen Gesichtern zu zweifelnden Mienen. Verzerrte Fratzen! Ein tosendes Meer hässlicher Bemerkungen
     und höhnischer Lacher brandet über sie hinweg. Luisa drückt die Hände auf die Ohren. Der Lärm in ihrem Kopf steigt ins Unerträgliche.
    Frau Thiele bemüht sich, dem Tumult ein Ende zu setzen: »Was ist denn hier los? Meine lieben Leute, die Osterferien beginnen
     erst in sechs Wochen. Ich erwarte mehr Disziplin, und ich erwarte auch, dass niemand sich über andere lustig macht. Keine
     Unterstellungen! Markus, Kevin, Michael, habt ihr verstanden? Und du, Luisa, versuchst mal, weniger Blödsinn zu erzählen!
     Wenn sich in der letzten Stunde eure Gemüter beruhigt haben, werden wir die Themen Ehrlichkeit und Toleranz im Klassenrat
     besprechen. Jetzt wird weitergearbeitet. In zwei Tagen schreiben wir die Mathearbeit.Ich weiß nicht, ob ihr alle fit genug seid, dass wir eine komplette Stunde verquatschen können, statt zu üben.«
    Eisige Stille! Das Wort »Mathearbeit« hat immer einschlagende Wirkung: Bei der Hälfte der Schüler friert der Wortschwall sofort
     ein. Frau Thiele spaßt nicht.
    Luisa sitzt teilnahmslos an ihrem Tisch, immer noch die Hände fest auf die Ohren gepresst. Die Ellbogen aufgestützt, vornübergebeugt,
     starrt sie auf ihr Mäppchen.
    ›Weniger Blödsinn erzählen‹, sie hat ihr also nicht geglaubt. Das mit der Mathearbeit hat Luisa nicht mehr gehört. Auch alles
     andere geht an ihr vorbei: Sie hört gar nichts mehr. In ihren Ohren rauscht es nur, und sie stellt sich vor, dass Millionen
     Liter Blut in einem Affentempo den Gehörgang hinabstürzen. Sprudelnd und schäumend und so bedrohlich wie damals am Rheinfall
     von Schaffhausen das tosende Wasser.
    Katja wollte unbedingt die Bootstour machen, eine Fahrt zu einem Felsen, der mitten im Wasserfall steht und den man über eine
     glitschige Treppe besteigen kann. Alles war pitschnass: die Treppe, das Geländer, Jacken, Taschen und Mützen. Wasserfontänen
     verteilte der Wind auf die neugierigenBesucher. Alle drängelten sich auf einer winzigen Plattform. Rundherum nur Brandung. Luisa hatte nie zuvor solche Angst. Das
     Rauschen des Wassers, die meterhohen Fontänen, die ungeduldigen Leute. Die Angst war fast fühlbar.
    Luisa schließt die Augen.
    »Luisa, ist alles in Ordnung?« Von sehr weit her hört sie ihren Namen, und Berit berührt vorsichtig ihren Arm, schaut sie
     besorgt von der Seite an.
    Ganz langsam nimmt Luisa die Hände von den Ohren und legt sie auf den Tisch, als wären sie aus feinstem Porzellan. Die Handflächen
     nach unten gedreht, sorgfältig links und rechts neben das Mathebuch platziert, sitzt sie stocksteif auf ihrem Stuhl und starrt
     auf die Lehrerin. Das Rauschen in ihren Ohren beruhigt sich, der Schmerz lässt nach.
    Kann man solche Tage überleben, wenn man in der ersten Schulstunde schon beinahe in den Strudel eines Wasserfalls gerät?
     
    »Nummer 8 der Hausaufgaben liest bitte Thorsten, und Michael trägt das Ergebnis vor!«
    Luisa vergleicht: Leider falsch! Mathe ist nicht gerade ihre Stärke. Manchmal, bei komplizierten Textaufgaben, kapiert sie
     überhaupt nicht, was sie machen soll. Schwarze Kiste! Komplettes Blackout.
    »So, letzte Aufgabe!«, hört sie Frau Thiele. »Nummer 10 auf Seite 12.   Wer liest vor?«
    Luisa wird es heiß und kalt und wieder heiß. Nummer 10 auf Seite 12? Wieso das denn? Die hatten sie doch gar nicht auf! Sie
     sieht

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