Weit weg ... nach Hause
solche hirnrissigen Ideen, dass Schüler fast
eine Woche lang ihre Freizeit in einer Jugendherberge miteinander verbringen sollen? Und jetzt soll sie sich auch noch melden?
Die, die übrig geblieben ist? Die, mit der keiner was zu tun haben will? Mit der niemand das Zimmer teilen möchte, so als
habe sie eine ansteckende Krankheit? Luisa starrt wie hypnotisiert auf den Werbeprospekt der Jugendherberge: Wald, Berge,
Burgen und gleich hinter dem Haus ein riesiges Maar. Thomas hat ihr erklärt, dass Maare eiskalte Bergseen sind, die nach einem
Vulkanausbruch vor langer Zeit auf den Kuppen der Berge zurückgeblieben sind. Das Wasser – supersauber – erscheint wegen der
Tiefe kohlrabenschwarz.
Luisa hasst Schwimmen in kaltem Wasser. Luisa hasst Klassenausflüge. Luisa hasst Vierbettzimmer.
»Luisa, träumst du?« Frau Thiele steht vor ihrem Tisch. »Bist du damit einverstanden, mit Nathalie und den drei anderen ein
Zimmer zu teilen?«
Erst der letzte Satz erreicht sie: Immer bestimmen andere über sie. Sie will diese Klassenfahrt nicht mitmachen. Warum hat
sie diese Ziegenbloß zu ihrem Geburtstag eingeladen? Sie spürt, wie das Blut in ihren Ohren zu pochen beginnt. Keins der Mädchen hat mit ihr
gesprochen, keine hat sie gefragt, ob sie mit aufs Zimmer möchte. Da muss erst eine Lehrerin eingreifen.
»Es ist mir sowieso egal. Ich weiß noch gar nicht, ob ich mitfahre«, schreit sie wütend durch die Klasse.
Eisige Stille. Die anderen starren sie an. Das hat sich noch niemand getraut, eine Lehrerin dermaßen anzuschreien.
Luisas Augen werden vor Schreck suppentellergroß. Sie schlägt die Hand vor den Mund. Der Satz war wieder blitzschnell rausgerutscht.
Zum Erstaunen der ganzen Klasse reagiert Frau Thiele gelassen: »Meine liebe Luisa, diese Klassenfahrt ist Pflicht. Es steht
nicht zur Diskussion, ob du hierbleiben kannst. Alle müssen mit, weil in der Zeit kein Unterricht stattfinden kann.«
Der erste Schrecken über den Ausrutscher legt sich. Jetzt macht sich auf Luisas Gesicht Entsetzen breit: Eine Woche Jugendherberge
im Fünfbettzimmer. Horror! Das hält sie nicht durch, sie braucht eine Idee. Irgendjemand muss ihr helfen!
Im Bus sitzt Luisa allein am Fenster auf der letzten Bank. Der Regen prasselt gegen die Scheibe, dieTropfen spielen Nachlaufen oder tanzen wie zu einem Menuett. Eine Melodie von Mozart fällt ihr ein, die hat sie früher mal
auf dem Klavier gespielt. Luisa lächelt: Das war ein schönes, fröhliches Stück.
Vor ihr sitzen fast nur jüngere Schüler, aus ihrer Klasse ist keiner dabei. Drei Jungen streiten sich, die meisten Mädchen
haben Stöpsel in den Ohren und hören Musik. Durch die Luft fliegen Mützen und zerkaute Kaugummis, durch den Gang rutschen
Rucksäcke und zertretene Coladosen, überall Getränkepfützen und Spucke: Jeden Tag dasselbe. Luisa ekelt sich.
Sie schaut aus dem Fenster, vorbei an den hüpfenden Regentropfen. Gerade fährt der Bus über eine Brücke. Das Rheinwasser steht
sehr hoch, und der Fluss erstreckt sich kolossal breit von Ufer zu Ufer. Die Rundbögen ihrer Lieblingsbrücke wölben sich über
den Fluss. Schiffe walzen durch das Wasser, das rasend schnell Richtung Düsseldorf fließt. Sich wegtragen lassen, auf einem
Schiff, sanft auf den Wellen schaukeln, das muss schön sein. Luisa denkt an ihren Traum. Wie wahnsinnig hoch die Brücke sich
über den Fluss spannt! Nie und nimmer hätte sie den Mut, da runterzuspringen.
Was kann sie bloß tun, um dieser schrecklichenKlassenfahrt zu entgehen? Eine Krankheit erfinden? Sie wird sich eine überlegen und niemand kann sie dann zwingen, sich in
einen Bus zu setzen, der in die Eifel fährt. Die Eltern müssen ihr glauben, sie wird das Kranksein perfekt spielen. Schließlich
ist sie die Tochter einer Schauspielerin. Eine Krankheit, das ist echt die Lösung. Luisa fühlt sich gleich besser. Jetzt bestimmt
sie
mal, was passiert, und das macht sie stark. Ein gruseliger Schultag hat noch ein gutes Ende gefunden.
Die Tage vergehen wie im Flug. In der Schule läuft es wie immer. Thomas macht seit einer Woche eine Fortbildung in Schweden.
Katja bereitet sich auf ein Casting für einen Spielfilm vor und Carlo schreibt eine Klassenarbeit nach der nächsten, so dass
er gut beschäftigt ist.
Heute ist der Nachmittag vor Luisas Geburtstag. Die Mutter hat sich eine Stunde ihrer kostbaren Zeit abgezwackt, um mit Luisa
Vorbereitungen für die Party zu treffen. Gerade belegt
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