Weit weg ... nach Hause
gesagt?«, will Luisa wissen.
»Thomas war geschockt. Er hat eine Telefonkette gestartet, angefangen bei der Schule, Nathalie und deiner Zeichenlehrerin.
Natürlich hatte dich niemand gesehen. Alle dachten, du seiest krank.«
Luisa schaut aus dem Autofenster auf den Rhein.
»Dann rief er mich zurück, und wir wussten, jetzt bleibt nur noch die Polizei. Das war schrecklich! Wir mussten mit einem
Foto zur Wache, und all die Fragen, die man uns gestellt hat, haben unsere Angst unvorstellbar groß gemacht:
Was hat sie an? Welche Farbe hat ihr Rucksack? Augenfarbe? Haarfarbe? Jackenfarbe? Hosenfarbe? Schließlich das Fahrrad. Welche
Farbe? Welche Marke?
Hat sie Freunde? Wo wohnen sie? Großeltern? War sie verändert? Hatte sie Probleme? Hat sie Andeutungen gemacht? Ist sie beliebt?
Ist sie gutgläubig? Ängstlich?
Fragen über Fragen.
Wir saßen stundenlang auf der Polizeiwache, suchten nach Antworten. Auf die Frage nach den Freunden wussten wir nicht so recht,
wen wir nennen sollten.«
»Glaub ich!«, antwortet Luisa und dreht den Kopf zu ihrer Mutter. »Ich hatte ja auch keine Freunde!«
»Hatte?«, horcht Katja auf.
»Ja! Hatte! Jetzt habe ich Freddy!«
Katja lächelt ihre Tochter an: »Freddy ist sehr nett!«
Luisa drängt: »Aber wie ging es weiter?«
»Wir haben uns Vorwürfe gemacht, Thomas und ich, wegen der Szene in der Pizzeria. Wir haben nicht verstanden, dass du wirklich
verzweifelt warst. Wir dachten, es sei deine schlechte Laune oder einfach Wut.«
»Ich weiß! Das habt ihr immer gedacht. Dass ich alles extra mache, um euch zu ärgern. Auch das mit der Vergesslichkeit: Manchmal
fallen mir die Sachen einfach zu spät ein.« Luisa schluckt heftig,weil sie zum ersten Mal mit ihrer Mutter darüber sprechen kann, ohne sich zu schämen.
»Das wissen wir, Luisa. Aber erst jetzt. Und – ganz ehrlich – es tut uns leid, dass wir das nicht vorher verstanden haben.
Als die Polizei dein Fahrrad im Hafen entdeckt hat, ist Thomas zusammengebrochen. Es zählte nur noch, dich so schnell wie
möglich gesund zu finden. Die Nacht haben wir hoffend und weinend vor dem Telefon verbracht, Kaffee getrunken, unsere Hände
gehalten und uns in den Armen gelegen, uns gegenseitig getröstet. Diese Nacht war endlos.«
Katja beginnt zu schluchzen. Tränen laufen über ihre Wangen und bilden schwarze Wimperntuschebäche. Diesmal sind es echte
Tränen, das spürt Luisa. Da setzt die Mutter den Blinker und hält den Wagen an einer Bushaltestelle. Dann fallen sich die
beiden in die Arme und weinen.
Erst das durchdringende Hupen eines Busses zwingt sie, sich wieder loszulassen. Sie wischen sich die Tränen von den Wangen
und lachen über den schimpfenden Busfahrer.
Als sie sich wieder in den Verkehr eingefädelt haben, sagt Katja:
»Übrigens, Nathalie hat vorgestern bei uns angerufen.«
»Nathalie?«, fragt Luisa froh und überrascht. »Was wollte sie?«
»Sie hat Thomas erzählt, wie bedrückt alle in die Eifel gefahren sind. Dass sie sehr nachdenklich wurden, sich Gedanken machten,
was mit dir geschehen sein könnte, wo du sein könntest. Dann hörten sie in den Radionachrichten, dass man dein Fahrrad auf
dem Hafengelände gefunden hat. Die Jungen dachten gleich an eine Entführung. Die Mädchen wollten das Schrecklichste nicht
denken, und doch gingen allen die gleichen Nachrichten durch den Kopf, Nachrichten von Vergewaltigung, Misshandlung und Mord.
Nur Nathalie war sich sicher, dass du weggelaufen bist, weil du die Nase voll hattest, immer die Außenseiterin zu sein. Und
dann hat sie allen in der Klasse von deinem Geburtstag erzählt, wie du den Tisch gedeckt hattest, und von den leckeren Kuchen
und dem Ausbleiben der Gäste.«
»Das hat sie erzählt?«, unterbricht Luisa die Mutter ungläubig. »Und was haben die anderen gesagt?«
»Die Mädchen waren wohl zerknirscht. Sie ahnten nicht, wie wichtig der Geburtstag für dich war, weil du wohl in letzter Zeit
oft sehr pampig warst. Vor allem wegen der Klassenfahrt. Niemandhat geahnt, dass du dich einsam gefühlt hast und eine Freundin suchtest.«
»Ja, ich weiß, dass ich manchmal ätzend war. Aber ich hatte mir vorgenommen, mich zu ändern. Ehrlich!«, sagt Luisa und schaut
die Mutter von der Seite an.
»Ehrlich?«, fragt Katja lächelnd zurück. »Auch zu Hause?«
»Klar, auch zu Hause! Eigentlich hatte ich schon ein bisschen damit angefangen. Hat man das nicht gemerkt?«, fragt Luisa ernst.
»Ne!«, antwortet Katja
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